EuGH zu Afghanistan-Papieren: Nationales Gericht muss zunächst urheberrechtlichen Schutz für militärische Lageberichte klären

Die Informationsfreiheit und die Pressefreiheit können außerhalb der in der Urheberrechtsrichtlinie vorgesehenen Ausnahmen und Beschränkungen keine Abweichung von den Urheberrechten rechtfertigen. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 29.07.2019 im Verfahren um die sogenannten Afghanistan-Papiere der Bundesregierung klargestellt. Der EuGH wies darauf hin, dass das nationale Gericht bei militärischen Lageberichten vor allem prüfen muss, ob die Voraussetzungen für ihren urheberrechtlichen Schutz erfüllt sind, bevor es prüft, ob ihre Nutzung unter diese Ausnahmen oder Beschränkungen fallen kann (Az.: C-469/17, BeckRS 2019, 15822).

Verschlusssachen der niedrigsten Geheimhaltungsstufe

Die Bundesrepublik Deutschland lässt wöchentlich einen militärischen Lagebericht über die Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Entwicklungen im Einsatzgebiet erstellen. Diese Berichte werden unter der Bezeichnung "Unterrichtung des Parlaments" (UdP) an ausgewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestags, an Referate im Bundesministerium der Verteidigung und an andere Bundesministerien sowie an bestimmte dem Bundesministerium der Verteidigung nachgeordnete Dienststellen übersandt. Die UdP sind als Verschlusssachen der niedrigsten Geheimhaltungsstufe "VS-Nur für den Dienstgebrauch" eingestuft. Daneben veröffentlicht die Bundesrepublik Deutschland gekürzte Fassungen der UdP als "Unterrichtung der Öffentlichkeit".

Funke Medien veröffentlichte Unterrichtungen

Die deutsche Gesellschaft Funke Medien NRW betreibt das Internetportal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Im September 2012 beantragte sie Zugang zu sämtlichen UdP der vergangenen elf Jahre. Ihr Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, dass das Bekanntwerden einiger Informationen nachteilige Auswirkungen auf sicherheitsempfindliche Belange der Bundeswehr haben könnte. Funke Medien gelangte jedoch auf unbekanntem Weg an einen Großteil der UdP und veröffentlichte einige von ihnen unter der Bezeichnung "Afghanistan-Papiere".

EuGH sollte Beziehung zwischen Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und Urheberrecht klären

Die Bundesrepublik Deutschland ist der Ansicht, Funke Medien habe ihr Urheberrecht an den Berichten verletzt. Sie nahm sie daher vor den deutschen Zivilgerichten auf Unterlassung in Anspruch. Vor diesem Hintergrund ersucht der Bundesgerichtshof den Gerichtshof um die Auslegung des Unionsrechts über den Urheberrechtsschutz (Richtlinie 2001/29/EG), insbesondere im Licht des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung.

EuGH: Nationale Gerichts müssen "Werk"-Eigenschaft der Berichte prüfen

Der EuGH betonte in seinem jetzt ergangenen Urteil, dass es Sache des nationalen Gerichts sei, vor allem zu prüfen, ob die Voraussetzungen für einen urheberrechtlichen Schutz militärischer Lageberichte vorliegen. Diese könnten nämlich nur dann urheberrechtlich geschützt sein, wenn es sich bei ihnen um eine geistige Schöpfung ihres Urhebers handelt, in der seine Persönlichkeit zum Ausdruck kommt und die sich in seinen bei ihrer Ausarbeitung frei getroffenen kreativen Entscheidungen ausdrückt. Sollten diese Voraussetzungen erfüllt und die militärischen Lageberichte damit als "Werke" anzusehen sein, könnten die Informationsfreiheit und die Pressefreiheit außerhalb der in der Urheberrechtsrichtlinie vorgesehenen Ausnahmen und Beschränkungen keine Abweichung von den Urheberrechten, insbesondere von den ausschließlichen Rechten des Urhebers zur Vervielfältigung und zur öffentlichen Wiedergabe, rechtfertigen.

Mechanismen für Ausgleich der Rechte in Richtlinie selbst verankert

Die durch die Urheberrechtsrichtlinie bewirkte Harmonisierung innerhalb der Europäischen Union solle insbesondere vor dem Hintergrund der elektronischen Medien einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen der Inhaber von Urheber- und verwandten Schutzrechten am Schutz ihres durch Art. 17 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Rechts am geistigen Eigentum auf der einen Seite und dem Schutz der Interessen und Grundrechte der Nutzer von Schutzgegenständen, insbesondere ihrer durch Art. 11 der Charta garantierten Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, sowie dem Allgemeininteresse auf der anderen Seite sichern. Die Mechanismen, die es ermöglichen, einen solchen Ausgleich in jedem Einzelfall zu finden, seien in der Richtlinie selbst verankert, da sie nicht nur die ausschließlichen Rechte der Rechtsinhaber vorsehe, sondern auch Ausnahmen und Beschränkungen.

Ausnahme für Berichterstattung über Tagesereignisse kann hier einschlägig sein

Soweit die Charta Rechte enthalte, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) garantierten Rechten entsprechen, solle mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta verankerten Rechten und den entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechten geschaffen werden, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird. Wie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu entnehmen sei, habe dieser mit Blick auf die Abwägung zwischen dem Urheberrecht und dem Recht auf freie Meinungsäußerung unter anderem auf die Notwendigkeit hingewiesen, zu berücksichtigen, dass die Art der betreffenden "Rede" oder Information insbesondere im Rahmen der politischen Auseinandersetzung oder einer Diskussion, die das allgemeine Interesse berührt, von besonderer Bedeutung sei. Unter diesen Umständen stellte der Gerichtshof unter Hinweis auf die Modalitäten, unter denen Funke Medien die militärischen Lageberichte im Internet veröffentlicht hat, fest, dass nicht ausgeschlossen sei, dass eine solche Nutzung von der in der Urheberrechtsrichtlinie vorgesehenen Ausnahme für die Berichterstattung über Tagesereignisse erfasst ist.

EuGH, Urteil vom 29.07.2019 - C-469/17

Redaktion beck-aktuell, 30. Juli 2019.