Kein Widerruf einer Einbürgerungszusicherung allein wegen Verwaltungsübertretungen

Beim Widerruf einer Einbürgerungszusicherung muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden. Das hat der Europäische Gerichtshof gestern im Fall des Widerrufs der Wiener Landesregierung gegenüber einer Frau aus Estland betont, die wegen der Zusicherung und als Voraussetzung für die österreichische Staatsbürgerschaft ihre estnische Staatsbürgerschaft aufgegeben hatte. Der Widerruf wurde mit mehreren Verwaltungsübertretungen begründet. Das reichte dem EuGH nicht aus.

Staatenlos nach Aufgabe estnischer Staatsbürgerschaft

Im Jahr 2008 beantragte JY, eine damals estnische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Österreich, die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft. Im Jahr 2014 sicherte ihr die zuständige österreichische Verwaltungsbehörde die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft für den Fall zu, dass sie binnen zwei Jahren das Ausscheiden aus dem estnischen Staatsbürgerschaftsverband nachweise. Diesen Nachweis erbrachte JY im Jahr 2015. Seit diesem Zeitpunkt ist JY staatenlos.

Widerruf wegen mehrerer Verwaltungsübertretungen

Im Juli 2017 widerrief die österreichische Verwaltungsbehörde die im Jahr 2014 erteilte Einbürgerungszusicherung mit der Begründung, JY habe nach der Staatsbürgerschaftszusicherung zwei schwerwiegende Verwaltungsübertretungen begangen, indem sie zum einen an ihrem Fahrzeug die Begutachtungsplakette nicht angebracht habe und zum anderen in alkoholisiertem Zustand gefahren sei. Ferner habe sie acht vor Erteilung dieser Zusicherung begangene Verwaltungsübertretungen zu vertreten.

EU-Recht zu berücksichtigen?

Nach erfolgloser Beschwerde legte JY Revision beim österreichischen Verwaltungsgerichtshof ein. Dieser hält nach österreichischem Recht unter Berücksichtigung der von JY vor und nach der Zusicherung der österreichischen Staatsbürgerschaft begangenen Verwaltungsübertretungen die Voraussetzungen für den Widerruf der Zusicherung für gegeben. Der VGH möchte aber vom EuGH geklärt wissen, ob die Situation, in der sich JY befindet, unter das Unionsrecht fällt und ob die zuständige Verwaltungsbehörde beim Erlass ihres Bescheids über den Widerruf der Einbürgerungszusicherung, der JY daran hindert, die Unionsbürgerschaft wiederzuerlangen, das Unionsrecht beachten musste, insbesondere – im Hinblick auf die Folgen dieses Bescheids für die Situation von JY – den darin verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

EuGH bejaht Anwendung des Unionsrechts

Der EuGH stellt fest, dass die Situation einer Person, die die Staatsangehörigkeit nur eines Mitgliedstaats besitzt und diese mit der Folge des Verlusts ihres Unionsbürgerstatus zwecks Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats aufgibt, nachdem ihr die Behörden dieses Mitgliedstaats die Verleihung von dessen Staatsbürgerschaft zugesichert haben, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht fällt, wenn diese Zusicherung widerrufen wird und die betroffene Person infolgedessen daran gehindert wird, den Unionsbürgerstatus wiederzuerlangen. Das liegt laut EuGH hier vor.

Unionsbürgerstatus nicht aus freien Stücken aufgegeben 

Weiter stellt der EuGH fest, dass JY beim Widerruf der besagten Zusicherung staatenlos war und ihren Unionsbürgerstatus verloren hatte. Da der Antrag auf Entlassung aus der Staatsangehörigkeit ihres Herkunftsmitgliedstaats im Rahmen eines Einbürgerungsverfahrens mit dem Ziel des Erwerbs der österreichischen Staatsbürgerschaft gestellt wurde und darauf zurückgeht, dass JY unter Berücksichtigung der ihr erteilten Zusicherung den mit diesem Verfahren verbundenen Anforderungen nachgekommen ist, könne nicht angenommen werden, dass in einer solchen Lage der Unionsbürgerstatus aus freien Stücken aufgegeben wurde. Vielmehr ziele, nachdem der Aufnahmemitgliedstaat die Verleihung seiner Staatsbürgerschaft zugesichert hat, der Antrag auf Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit darauf ab, eine Voraussetzung für den Erwerb der besagten Staatsbürgerschaft zu erfüllen und nach deren Verleihung weiterhin den Unionsbürgerstatus und die damit verbundenen Rechte in Anspruch zu nehmen.

Widerruf berührt Unionsbürgerstatus unmittelbar

Wenn die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats im Rahmen eines Einbürgerungsverfahrens die Einbürgerungszusicherung widerrufen, sei es der betroffenen Person, die Staatsangehörige nur eines anderen Mitgliedstaats war und ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit aufgegeben hat, um den mit dem Einbürgerungsverfahren verbundenen Anforderungen nachzukommen, unmöglich, die sich aus ihrem Unionsbürgerstatus ergebenden Rechte weiterhin geltend zu machen. Ein solches Verfahren berühre insgesamt den Status, der den Angehörigen der Mitgliedstaaten mit Art. 20 AEUV verliehen wird, betont der EuGH. Es könne nämlich dazu führen, dass einer Person in der Situation von JY die mit diesem Status verbundenen Rechte verloren gehen, obwohl sie bei Beginn dieses Verfahrens Angehörige eines Mitgliedstaats war und damit den Unionsbürgerstatus innehatte.

EuGH stellt Verlust der Rechte auf Freizügigkeit innerhalb der Union fest

JY habe als estnische Staatsangehörige von ihrer Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit Gebrauch gemacht, als sie sich in Österreich niederließ, wo sie seit mehreren Jahren wohnt. Nach der Logik der mit Art. 21 Abs. 1 AEUV geförderten schrittweisen Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats müsse die Situation eines Unionsbürgers, dem in Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit innerhalb der EU aus dieser Bestimmung Rechte erwachsen und der dem Verlust nicht nur dieser Rechte, sondern auch ebendieser Eigenschaft als Unionsbürger ausgesetzt ist, obwohl er sich im Wege der Einbürgerung im Aufnahmemitgliedstaat um eine verstärkte Eingliederung in dessen Gesellschaft bemüht habe, in den Anwendungsbereich der Bestimmungen des AEUV über die Unionsbürgerschaft fallen.

Folgen eines Widerrufs an Verhältnismäßigkeit zu messen

Art. 20 AEUV ist laut EuGH dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden und die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats zu prüfen haben, ob der Widerruf, durch den der Verlust des Unionsbürgerstatus für die betreffende Person endgültig wird, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation dieser Person mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Diesem Erfordernis der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei nicht genügt, wenn der Widerruf mit straßenverkehrsrechtlichen Verwaltungsübertretungen begründet wird, die nach dem anwendbaren nationalen Recht rein finanziell geahndet werden.

Einbürgerungsverfahren darf nicht zu Verlust des Unionsbürgerstatus führen

Die Luxemburger Richter stellen klar, dass, wenn im Rahmen eines in einem Mitgliedstaat eingeleiteten Einbürgerungsverfahrens dieser Mitgliedstaat von einem Unionsbürger die Aufgabe der Staatsangehörigkeit seines Herkunftsmitgliedstaats verlangt, er zu keinem Zeitpunkt Gefahr laufen darf, seinen grundlegenden Status als Unionsbürger und die Rechte, die einem solchen Bürger nach Art. 20 AEUV zustehen, deshalb zu verlieren, weil das Einbürgerungsverfahren betrieben wird. Jeder auch nur vorübergehende Verlust dieses Status nehme nämlich der betroffenen Person für unbestimmte Zeit die Möglichkeit des Genusses aller mit diesem Status verliehenen Rechte, so die EuGH-Richter.

Auch Herkunftsland in der Pflicht

Ferner weist der EuGH auch auf die Pflichten des Herkunftslands in diesem Zusammenhang hin. Denn beantrage ein Angehöriger eines Mitgliedstaats die Entlassung aus seiner Staatsangehörigkeit, um die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats erwerben und damit weiterhin den Unionsbürgerstatus genießen zu können, sollte der Herkunftsmitgliedstaat deshalb nicht auf der Grundlage der Einbürgerungszusicherung dieses anderen Mitgliedstaats eine endgültige Entscheidung über das Erlöschen der Staatsangehörigkeit erlassen, ohne sicherzustellen, dass diese Entscheidung erst in Kraft tritt, wenn die neue Staatsangehörigkeit tatsächlich erworben wurde.

Aufnahmemitgliedsstaat zuständig für Gewährleistung der Unionsrechte

Nichtsdestotrotz treffe, wenn der Unionsbürgerstatus, wie im konkreten Fall geschehen, bereits vorläufig verloren wurde, weil der Herkunftsmitgliedstaat die betreffende Person aus seiner Staatsangehörigkeit entlassen hat, bevor diese Person tatsächlich die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats erworben hat, die Verpflichtung zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit von Art. 20 AEUV in erster Linie den letztgenannten Mitgliedstaat. Diese Verpflichtung bestehe insbesondere dann, wenn es um die Entscheidung, eine Einbürgerungszusicherung zu widerrufen, geht, die zur Folge haben kann, dass der Verlust des Unionsbürgerstatus endgültig wird.

Widerruf nur unter engen Voraussetzungen zulässig

Eine solche Entscheidung kann laut EuGH daher nur aus legitimen Gründen und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit getroffen werden. Bei der Untersuchung der Verhältnismäßigkeit sei unter anderem zu prüfen, ob eine solche Entscheidung im Verhältnis zur Schwere der von der betroffenen Person begangenen Verstöße gerechtfertigt ist.

Finanziell ahndbare Verstöße gegen StVO kein Grund für Widerruf

Im Fall JY stellt der Gerichtshof fest, dass die vor der Einbürgerungszusicherung liegenden Verstöße keine spätere Berücksichtigung finden, um die Widerrufsentscheidung zu tragen. Die nach Erhalt der Einbürgerungszusicherung begangenen Verstöße lassen laut EuGH ihrerseits in Anbetracht ihrer Art und Schwere sowie unter Berücksichtigung des Erfordernisses einer engen Auslegung der Begriffe der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit nicht erkennen, dass von JY eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, oder eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit Österreichs ausgeht. Rein finanziell ahndbare Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung könnten dies jedenfalls nicht belegen und es nicht rechtfertigen, dass der Verlust des Unionsbürgerstatus endgültig wird.

EuGH, Urteil vom 18.01.2022 - C-118/20

Redaktion beck-aktuell, 19. Januar 2022.