Polnische Vorlagegerichte: Neue Disziplinarordnung für Richter mit EU-Recht vereinbar?
Zwei polnische Gerichte wandten sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Sie wollten wissen, ob die neue polnische Regelung über die Disziplinarordnung der Richter mit dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV garantierten Anspruch auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vereinbar ist. Im Ausgangsverfahren zur Rechtssache C-558/18 geht es um einen Streit zwischen der Stadt Lodz (Polen) und dem Fiskus wegen einer Klage auf Zahlung öffentlicher Zulagen. Das polnische Vorlagegericht (Bezirksgericht Lodz) machte deutlich, dass die zu treffende Entscheidung wahrscheinlich für den Fiskus ungünstig ausfallen werde. Die Rechtssache C-563/18 betrifft ein Strafverfahren gegen drei Personen wegen in den Jahren 2002 und 2003 begangener Straftaten. Dabei muss das Vorlagegericht (Bezirksgericht Warschau) in Erwägung ziehen, ihnen eine außerordentliche Strafmilderung zu gewähren, weil sie mit den Strafbehörden zusammengearbeitet haben und geständig sind.
Disziplinarverfahren wegen unliebsamer Entscheidungen befürchtet
In beiden Vorabentscheidungsersuchen äußern die Gerichte die Befürchtung, dass derartige Entscheidungen zu Disziplinarverfahren gegen den Einzelrichter des jeweiligen Verfahrens führen könnten. Grund seien die kürzlich in Polen durchgeführten gesetzgeberischen Reformen, die die Objektivität und Unparteilichkeit der Disziplinarverfahren gegen Richter in Frage stellten und die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte beeinträchtigten. Die vorlegenden Gerichte betonen insbesondere die beträchtliche Einflussmöglichkeit, die künftig dem Justizminister in Disziplinarverfahren gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit zukommt. Es fehle an angemessenen Garantien. Solche Disziplinarverfahren gäben der Legislative und der Exekutive ein Mittel an die Hand, Richter, deren Entscheidungen für sie unliebsam seien, aus dem Amt zu entfernen. Dadurch würden die von den Richtern zu treffenden Entscheidungen beeinflusst.
EuGH: Vorabentscheidungsersuchen nicht "erforderlich" und daher unzulässig
Der EuGH bestätigt zwar seine Zuständigkeit zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV. Er erachtet die beiden Vorabentscheidungsersuchen jedoch für unzulässig, da es sich bei den vorgelegten Fragen um solche allgemeiner Art handele. Sie seien nicht "erforderlich" (Art. 267 AEUV), um den vorlegenden Gerichten den Erlass ihrer Urteile zu ermöglichen.
Bezug zwischen Ausgangsrechtsstreit und auszulegendem EU-Recht notwendig
Ein Vorabentscheidungsverfahren setze nach Art. 267 AEUV in der Auslegung durch den EuGH insbesondere voraus, dass ein Rechtsstreit vor den nationalen Gerichten tatsächlich anhängig ist, in dessen Rahmen die Gerichte das im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteil zu berücksichtigen haben. Aufgabe des EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren sei dabei, das vorlegende Gericht bei der Entscheidung des konkret bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu unterstützen. Daher müsse zwischen diesem Rechtsstreit und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht werde, ein Bezug bestehen. Dieser Bezug müsse einem objektiven Erfordernis für die Entscheidung entsprechen, die das nationale Gericht treffen müsse.
Kein Bezug zwischen Ausgangsrechtsstreit und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV
An einem solchen Bezug fehle es. Die Ausgangsverfahren wiesen keinen Bezug zum Unionsrecht und insbesondere nicht zu Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV auf, auf den sich die Vorlagefragen bezögen. In Anbetracht dessen hätten die vorlegenden Gerichte zur Entscheidungsfindung in den Ausgangsverfahren dieses Recht nicht anzuwenden. Zwar habe der EuGH bereits zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen für zulässig erklärt, die sich auf die Auslegung von Verfahrensvorschriften des Unionsrechts bezogen hätten, die das betreffende vorlegende Gericht zum Erlass seines Urteils habe anwenden müssen. Um dergleichen gehe es aber nicht in den vorgelegten Fragen. Eine Antwort auf die Vorlagefragen erscheine auch nicht geeignet, den vorlegenden Gerichten eine Auslegung des Unionsrechts an die Hand zu geben, die es ihnen ermögliche, über Verfahrensfragen des nationalen Rechts zu entscheiden, bevor sie dann gegebenenfalls in den Ausgangsverfahren in der Sache entscheiden könnten.
Vorlagerecht und richterliche Unabhängigkeit verbieten Disziplinarverfahren wegen Vorabentscheidungsersuchen
Es könne aber nicht zugelassen werden, dass nach nationalen Vorschriften nationale Richter Disziplinarverfahren befürchten müssten, weil sie ihn im Vorabentscheidungsverfahren angerufen haben, unterstreicht der EuGH. Denn die Aussicht disziplinarischer Verfolgungsmaßnahmen könne die nationalen Richter bei der effektiven Ausübung der Befugnis zur Anrufung des EuGH und bei der effektiven Wahrnehmung des mit der Anwendung des Unionsrechts befassten Richteramts beeinträchtigen, das ihnen die Verträge verliehen hätten. Es stelle zudem eine ihrer Unabhängigkeit inhärente Garantie dar, dass Richter aus diesen Gründen derartigen Verfahren oder disziplinarischen Sanktionen nicht ausgesetzt werden, betont der EuGH.