Aussetzung eines Europäischen Vollstreckungstitels

Der Europäische Gerichtshof hat den Begriff der außergewöhnlichen Umstände präzisiert, unter denen die zuständige Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats die Vollstreckung einer im Ursprungsmitgliedstaat als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung aussetzen kann. Erforderlich sei, dass die Fortsetzung der Vollstreckung den Schuldner der tatsächlichen Gefahr eines besonders schweren Schadens aussetzen würde.

Millionenschwerer Mahnbescheid gegen Arik Air

Ein deutsches Amtsgericht stellte der Arik Air Limited wegen Forderungen in Millionenhöhe einen Mahnbescheid zugunsten der Lufthansa zu. Anschließend stellte es einen Europäischen Vollstreckungstitel und eine Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel aus. Die Lufthansa beauftragte sodann einen in Litauen tätigen Gerichtsvollzieher mit der Vollstreckung. Arik Air beantragte beim in zweiter Instanz zuständigen deutschen Landgericht den Widerruf der Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel und die Einstellung der Zwangsbeitreibung. Sie habe nicht rechtzeitig gegen den Mahnbescheid vorgehen können, weil das AG ihr die Verfahrensunterlagen nicht ordnungsgemäß zugestellt habe. In Litauen beantragte Arik Air ferner ohne Erfolg beim Gerichtsvollzieher die Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung des LG.

Litauisches Gericht setzt Vollstreckungsverfahren aus

Das LG machte in der Folge die Aussetzung der Vollstreckung des betreffenden Europäischen Vollstreckungstitels von der Leistung einer Sicherheit abhängig, die in etwa der Höhe der Lufthansa-Forderung entsprach. In Litauen klagte derweil Arik Air gegen die Entscheidung des Gerichtsvollziehers und erreichte in zweiter Instanz eine Aufhebung dessen Beschlusses und eine Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung des deutschen LG über die Anträge von Arik Air. Das litauische Berufungsgericht begründete die Aussetzung des Verfahrens damit, dass Arik Air im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens ein unverhältnismäßig großer Schaden drohe. Lufthansa legte gegen diesen Beschluss in Litauen Kassationsbeschwerde ein. Das befasste litauische Gericht legte die Sache dem EuGH vor. Dieser möge die Voraussetzungen einer Aussetzung der Vollstreckung nach Art. 23 VO (EG) Nr. 805/2004 klären.

EuGH präzisiert Begriff der außergewöhnlichen Umstände

Laut EuGH liegen außergewöhnliche Umstände im Sinn des Art. 23 c) VO (EG) Nr. 805/2004 vor, wenn die Fortsetzung des Verfahrens zur Vollstreckung einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung den Schuldner der tatsächlichen Gefahr eines besonders schweren Schadens aussetzen würde. Das gelte, wenn der Schuldner im Ursprungsmitgliedstaat einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung eingelegt oder einen Antrag auf Berichtigung oder auf Widerruf der Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel gestellt hat. Nicht "außergewöhnlich" in diesem Sinne seien Umstände, die mit dem Gerichtsverfahren zusammenhängen, das im Ursprungsmitgliedstaat gegen die als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigte Entscheidung oder gegen die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel gerichtet ist.

Prüfungsbefugnis des Vollstreckungsmitgliedstaats beschränkt

Weiter stellt der EuGH klar, dass die Gerichte und Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats im Rahmen eines Antrags auf Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens nicht befugt sind, eine im Ursprungsmitgliedstaat ergangene Entscheidung über eine unbestrittene Forderung oder ihre Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel zu prüfen. Bei der Prüfung eines solchen Aussetzungsantrags müssten sich diese Gerichte oder Stellen zur Feststellung des Vorliegens außergewöhnlicher Umstände darauf beschränken, die Interessen des Gläubigers an einer sofortigen Vollstreckung und das gegenläufige Interesse des Schuldners abzuwägen. Abschließend führt der EuGH aus, dass sich das nationale Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats der Aussetzung des Verfahrens zu vergewissern hat, wenn die Vollstreckbarkeit einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat ausgesetzt wurde.

EuGH, Urteil vom 16.02.2023 - C-393/21

Redaktion beck-aktuell, 17. Februar 2023.