Zwei Übergabeversuche am Widerstand des Betroffenen gescheitert
Hintergrund des Verfahrens ist der Fall von Tomas Vilkas, gegen den zwei Europäische Haftbefehle ergangen waren, die ein litauisches Gericht ausgestellt hatte. Die irischen Behörden versuchten, Vilkas mittels eines gewerblichen Flugs den litauischen Behörden zu übergeben. Vilkas wurde jedoch wegen des von ihm geleisteten Widerstands von dem Flug ausgeschlossen. Zwei Wochen später scheiterte ein zweiter Übergabeversuch an einem ähnlichen Geschehensablauf. Der irische Minister für Justiz und Gleichstellung beantragte daraufhin beim High Court (Hohes Gericht, Irland), einen dritten Versuch der Übergabe zuzulassen. Der High Court stellte jedoch fest, dass es für die Entscheidung über diesen Antrag nicht zuständig sei, und ordnete die Freilassung von Vilkas an. Der Minister für Justiz und Gleichstellung hat gegen dieses Urteil beim Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) Berufung eingelegt. Der Court of Appeal möchte vom Gerichtshof wissen, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen das Unionsrecht es den Behörden erlaubt, im Fall höherer Gewalt mehr als einmal ein neues Übergabedatum zu vereinbaren.
EuGH: Zahl der neuen Übergabetermine nicht ausdrücklich beschränkt
Der EuGH weist zunächst darauf hin, dass nach dem Unionsrecht die Übergabe der gesuchten Person spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu erfolgen habe. Von dieser Regel gebe es allerdings bestimmte Ausnahmen. So sei festgelegt, dass die Justizbehörden ein neues Übergabedatum vereinbaren können, wenn die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der vorgesehenen Frist aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich ist. Unter Berücksichtigung insbesondere der vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziele habe der EuGH den Schluss gezogen, dass das Unionsrecht die Zahl der neuen Übergabetermine nicht ausdrücklich beschränke und es auch dann erlaube, ein neues Übergabedatum festzusetzen, wenn die Übergabe mehr als zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gescheitert ist.
Gerichtshof konkretisiert Begriff der höheren Gewalt
Sodann hat der EuGH geprüft, ob die vollstreckende Justizbehörde (hier die irischen Behörden) und die ausstellende Justizbehörde (hier die litauischen Behörden) einen dritten Übergabetermin vereinbaren müssen, wenn der von der gesuchten Person wiederholt geleistete Widerstand die Übergabe bereits zweimal vereitelt hat. Wie das Gericht betont, hat der Unionsgesetzgeber sich auf den Begriff der höheren Gewalt im Sinne von ungewöhnlichen und unvorhersehbaren Ereignissen beziehen wollen, auf die derjenige, der sich darauf beruft, keinen Einfluss hat und deren Folgen trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können. Zudem weist er darauf hin, dass dieser Begriff eng auszulegen sei. Höhere Gewalt könne nämlich nur dann eine Verlängerung der Frist für die Übergabe der gesuchten Person rechtfertigen, wenn die Übergabe innerhalb der vorgesehenen Frist "unmöglich" sei; eine Erschwerung der Übergabe könne die Anwendung der Regel daher nicht rechtfertigen.
Widerstand der gesuchten Person grundsätzlich vorhersehbar
Der EuGH stellt in diesem Zusammenhang fest, dass der Widerstand einer gesuchten Person gegen ihre Übergabe durchaus als ein ungewöhnliches Ereignis angesehen werden könne, auf das die betreffenden Behörden keinen Einfluss haben. Diese Sachlage lasse sich jedoch grundsätzlich nicht als ein unvorhersehbares Ereignis qualifizieren. Erst recht könne in einem Fall, in dem sich die gesuchte Person bereits einem ersten Übergabeversuch widersetzt hat, der Umstand, dass sie sich auch einem zweiten Übergabeversuch widersetzt, normalerweise nicht als unvorhersehbar angesehen werden. Die betreffenden Behörden verfügten in den meisten Fällen über Mittel, die es ihnen ermöglichen, den Widerstand der gesuchten Person zu überwinden. Es sei auch möglich, Beförderungsmittel zu wählen, deren Benutzung nicht durch den Widerstand der gesuchten Person effektiv verhindert werden könne.
Vereinbarung neuen Übergabetermins nicht ausgeschlossen
Nach Auffassung des EuGH lässt sich jedoch nicht völlig ausschließen, dass der Widerstand der gesuchten Person gegen ihre Übergabe aufgrund außergewöhnlicher Umstände für die betreffenden Behörden objektiv nicht vorhersehbar ist und dass die Folgen dieses Widerstands für die Übergabe trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt durch diese Behörden nicht vermieden werden können. Es sei Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob hier solche Umstände vorliegen. Ferner wies der Gerichtshof, da die Möglichkeit besteht, dass der Court of Appeal den wiederholten Widerstand von Vilkas nicht als "höhere Gewalt" einstuft, darauf hin, dass das Unionsrecht nicht dahin ausgelegt werden könne, dass es impliziert, dass die vollstreckende Justizbehörde nach Ablauf der vorgesehenen Fristen mit der ausstellenden Justizbehörde kein neues Übergabedatum mehr vereinbaren dürfte oder dass der Vollstreckungsmitgliedstaat nicht mehr verpflichtet wäre, das Verfahren zur Vollstreckung des Haftbefehls fortzusetzen.
Vollstreckungsmitgliedstaat muss Verfahren zu Vollstreckung des Haftbefehls fortführen
Eine Auslegung, nach der die vollstreckende Justizbehörde nach Ablauf der vorgesehenen Fristen nicht mehr die Übergabe der gesuchten Person durchführen und hierfür mit der ausstellenden Justizbehörde ein neues Übergabedatum vereinbaren dürfte, wäre geeignet, das Ziel einer Beschleunigung und Vereinfachung der justiziellen Zusammenarbeit zu beeinträchtigen. Daraus folge, dass der bloße Ablauf der vorgesehenen Fristen den Vollstreckungsmitgliedstaat nicht seiner Verpflichtung entheben könne, das Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls fortzuführen und die Übergabe der gesuchten Person durchzuführen, wofür die betreffenden Behörden ein neues Übergabedatum vereinbaren müssten.