EuGH verurteilt Deutschland wegen zu hoher Stickstoffdioxid-Werte
stadt_straßenverkehr_CR_Kara_adobe
© Kara / stock.adobe.com
stadt_straßenverkehr_CR_Kara_adobe

Deutschland hat über Jahre die Grenzwerte für Stickstoffdioxid (NO2) systematisch und anhaltend überschritten und damit gegen die europäische Richtlinie über Luftqualität verstoßen. Dies hat am Donnerstag der Europäische Gerichtshof entschieden und damit einer Vertragsverletzungsklage der Europäischen Kommission stattgegeben. Diese forderte Deutschland nach dem Urteil zu einem wirksamen Handeln auf. 

Verstoß gegen Richtlinie über Luftqualität

Die Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.05.2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa sieht für NO2 ab dem 01.01.2010 Grenzwerte von 40 μg/m³ im Jahresmittel und von 200 μg/m3 im Stundenmittel vor. Der letztgenannte Wert darf nicht öfter als 18-mal im Kalenderjahr überschritten werden. Laut Gerichtshof wurden die Grenzwerte in 26 der 89 beurteilten deutschen Gebiete und Ballungsräume von 2010 bis 2016 systematisch und anhaltend überschritten. Zu diesen zählen insbesondere die Großstädte Berlin, Hamburg, München, Stuttgart, Köln und Düsseldorf.

Bis zu 150% über dem Jahresgrenzwert

Nach den Feststellungen des Gerichtshofs, hätten die von Deutschland für das Jahr 2016 gemeldeten Werte in allen 26 Gebieten zwischen 2,5% und 105% über dem Jahresgrenzwert gelegen. In 16 Gebieten hätten die NO2-Konzentrationen in der Luft um 25% oder mehr darüber gelegen, in sieben Gebieten sogar um 50% oder mehr. In Stuttgart und München sei der Grenzwert in 2010 und 2011 um etwa 150% überschritten worden. Überdies habe es Deutschland versäumt, dafür zu sorgen, dass die Luftqualitätspläne geeignete Maßnahmen vorsähen, damit der Zeitraum der Nichteinhaltung der Grenzwerte so kurz wie möglich gehalten werde. Es seien keine geeigneten Maßnahmen ergriffen worden, um ab dem 11.06.2010 in allen Gebieten die Einhaltung der Grenzwerte für NO2 zu gewährleisten.

EuGH: EU-Abgasnorm entbindet nicht von Einhaltung der Richtlinie

Der EuGH hat der Klage der Europäischen Kommission für die genannten Zeiträume daher in vollem Umfang stattgegeben. Er weist insbesondere das Vorbringen Deutschlands zurück, dass die Überschreitungen der Grenzwerte für NO2 maßgeblich auf eigene Versäumnisse der Kommission zurückzuführen seien, da diese sich hinsichtlich eines Vorschlags für wirksame Rechtsvorschriften zur Begrenzung der Emissionen dieses Schadstoffs durch Dieselfahrzeuge nachlässig gezeigt habe. Deutschland habe hinzugefügt, als besonders problematisch im Hinblick auf die Einhaltung der in der Richtlinie über Luftqualität festgelegten Grenzwerte für NO2 hätten sich Dieselfahrzeuge der Norm "Euro 5" erwiesen. Der Gerichtshof entgegnet, dass die für die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen geltende Unionsregelung die Mitgliedstaaten nicht von ihrer Verpflichtung zur Einhaltung der in der Richtlinie festgelegten Grenzwerte befreien könne. Abgesehen davon seien Kraftfahrzeuge, die den auf Unionsebene aufgestellten Vorschriften unterlägen, nicht die alleinige und einzige Ursache von NO2-Emissionen.

EU-Kommission fordert Deutschland zu wirksamem Handeln auf

Die Europäische Kommission fordert Deutschland nach dem Urteil auf, alles zur Einhaltung der Grenzwerte für den Luftschadstoff Stickstoffdioxid zu tun. Alle Ursachen müssten angegangen werden, erklärte eine Kommissionssprecherin am Donnerstag in Brüssel. Dabei spielten oft auch Emissionen älterer Dieselfahrzeuge eine Rolle. Die Sprecherin betonte, bei der Wahl der Mittel für saubere Luft hätten die EU-Staaten freie Hand, doch müssten die Maßnahmen wirksam sein und das Problem so schnell wie möglich lösen. "Deshalb müssen die Maßnahmen die wichtigsten Ursachen der Emissionen angehen", erklärte die Sprecherin. "Je stärker die Überschreitungen, desto dringender ist die Notwendigkeit, einschneidende Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Bürger zu treffen."

Umwelthilfe: EuGH-Urteil "schallende Ohrfeige" für Bundesregierung

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) bewertet das Urteil als derbe Schlappe für die Bundesregierung. Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch sagte am Donnerstag in Berlin: "Die rechtskräftige Verurteilung der Bundesregierung durch das höchste europäische Gericht ist eine schallende Ohrfeige für die Diesellobbyisten auf der Regierungsbank." Die DUH fordert schnelle Konsequenzen. Dazu gehöre etwa eine schnelle Umwidmung von Straßenflächen in geschützte Radwege und die Stilllegung beziehungsweise Hardware-Nachrüstung der knapp zehn Millionen "Betrugs-Diesel" auf Kosten der Hersteller.

Umweltministerin verweist auf Fortschritte bei der Luftqualität

Demgegenüber verweist Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) auf merkliche Fortschritte in jüngster Vergangenheit. In den vergangenen Jahren sei viel für die Luftqualität erreicht worden, erklärte die SPD-Politikerin am Donnerstag in Berlin. "2016 wurden die Grenzwerte noch in 90 Städte teils erheblich überschritten. Im Jahr 2020 reißt nur noch ein Bruchteil davon die Latte - das ist ein großer Erfolg." Dennoch seien sechs Städte mit Grenzwertüberschreitung immer noch sechs zu viel. Schulze erklärte, entscheidend für die positive Entwicklung seien die Maßnahmen zur Luftreinhaltung von Bund und Ländern gewesen. "Außerdem sorgen die neuen Abgasnormen für Diesel-Pkw für mehr saubere Fahrzeuge auf der Straße, und nicht nur auf dem Papier." Sie verwies darauf, dass der Bund über das Sofortprogramm "Saubere Luft" insgesamt 1,5 Milliarden Euro bereitstelle, damit die Busflotten elektrisch werden oder Diesel-Busse nachgerüstet werden. Auch die Maßnahmen der Städte - Tempo-30-Zonen und die Nachrüstung von Bussen im Nahverkehr etwa - leisteten einen wertvollen Beitrag für die Luftqualität vor Ort.

EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-635/18

Redaktion beck-aktuell, 4. Juni 2021.