EuGH: Verlust von Staats- und Unionsbürgerschaft bei Wegfall echter Bindung zum EU-Staat möglich

Personen, die die Staatsangehörigkeit eines EU-Staats und eines Drittstaats besitzen, können erstere sowie in der Konsequenz die Unionsbürgerschaft verlieren, wenn eine echte Bindung zu dem EU-Staat dauerhaft wegfällt. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 12.03.2019 entschieden. Allerdings sei aus Verhältnismäßigkeitsgründen eine Einzelfallprüfung der Verlustfolgen für die Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erforderlich (Az.: C-221/17).

Anträge auf Passverlängerung wegen Verlust niederländischer Staatsangehörigkeit nicht geprüft

Niederländische Staatsangehörige, die über eine zweite Staatsangehörigkeit eines Drittstaates verfügen, klagen vor den niederländischen Gerichten wegen der Weigerung des Ministers für auswärtige Angelegenheiten, ihre Anträge auf Verlängerung des nationalen Passes zu prüfen.

Voraussetzungen für Verlust niederländischer Staatsangehörigkeit

Der Minister stützte diese Weigerung auf das Gesetz über die niederländische Staatsangehörigkeit, nach dem eine volljährige Person diese Staatsangehörigkeit verliert, wenn sie zugleich eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt und während ihrer Volljährigkeit während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der Niederlande und der Europäischen Union hat. Der Zehnjahreszeitraum wird jedoch unterbrochen, wenn die betreffende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt während eines Zeitraums von mindestens einem Jahr in den Niederlanden oder der Europäischen Union hat. Er wird auch unterbrochen, wenn die betreffende Person die Ausstellung einer Erklärung über den Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit, eines Reisedokuments (Pass) oder eines niederländischen Personalausweises beantragt. Ab dem Tag der Ausstellung eines dieser Dokumente beginnt eine neue Frist von zehn Jahren. Darüber hinaus verliert eine minderjährige Person grundsätzlich die niederländische Staatsangehörigkeit, wenn ihr Vater oder ihre Mutter diese Staatsangehörigkeit verliert.

Vorlagegericht: Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit mit Unionsrecht vereinbar?

Das niederländische Vorlagegericht, der Staatsrat, wollte im Vorabentscheidungsverfahren wissen, über welchen Wertungsspielraum die Mitgliedstaaten verfügen, um die Voraussetzungen für den Verlust der Staatsangehörigkeit festzulegen. Der EuGH sollte insbesondere klären, ob der kraft Gesetzes eintretende Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit, der auch den Verlust der Unionsbürgerschaft bewirke, mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

EuGH: Verlust niederländischer Staatsangehörigkeit an Unionsrecht zu messen

Der EuGH hält zunächst fest, dass die Konstellationen der Ausgangsverfahren unter das Unionsrecht fallen. Er habe bereits entschieden, dass Art. 20 AEUV jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers verleiht, bei dem es sich um den grundlegenden Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten handle. Die Situation von Unionsbürgern, die – wie die Klägerinnen der Ausgangsverfahren – die Staatsangehörigkeit nur eines einzigen Mitgliedstaats besäßen und die durch den Verlust dieser Staatsangehörigkeit auch mit dem Verlust des Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte konfrontiert würden, falle daher ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht.

Kriterium des ununterbrochenen 10jährigen gewöhnlichen Aufenthalts außerhalb der EU rechtmäßig

Laut EuGH wollte der niederländische Gesetzgeber eine Regelung einführen, die unter anderem darauf abzielt, die unerwünschten Folgen des Besitzes mehrerer Staatsangehörigkeiten durch ein und dieselbe Person auszuschließen. Die niederländische Regierung habe hierzu ausgeführt, das Staatsangehörigkeitsgesetz solle unter anderem vermeiden, dass Personen die niederländische Staatsangehörigkeit erhalten oder beibehalten, obwohl keine echte Bindung zwischen ihnen und den Niederlanden (mehr) besteht. Die Bestimmungen dieses Gesetzes in Bezug auf Minderjährige zielten darauf ab, die Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie zu erhalten. Nach Auffassung des EuGH ist es zulässig, auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Staatsangehörigen der Niederlande während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren außerhalb der EU abzustellen, da dieses Kriterium das Fehlen dieser echten Bindung widerspiegelt. Dies werde auch durch völkerrechtliche Bestimmungen bestätigt, die in ähnlichen Situationen vorsähen, dass eine Person die Staatsangehörigkeit des betreffenden Staates verlieren kann, sofern die Gefahr der Staatenlosigkeit – wie im vorliegenden Fall durch das niederländische Gesetz – ausgeschlossen wird. Für diese Rechtmäßigkeit spreche auch, dass die Ausstellung einer Erklärung über den Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit, eines Reisedokuments oder eines niederländischen Personalausweises für die Annahme ausreicht, die betreffende Person wolle eine echte Bindung mit den Niederlanden aufrechterhalten.

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfordert aber Einzelfallprüfung

Der EuGH unterstreicht allerdings, dass der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstieße, wenn die relevanten innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu keinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erlaubten. Die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte müssten in der Lage sein, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen. Im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung sei es Sache insbesondere der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der nationalen Gerichte, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass der Verlust der Staatsangehörigkeit mit der EU-Grundrechtecharta, insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens und der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls im Einklang steht.

Bei Einzelfallprüfung zu berücksichtigende Umstände

In Bezug auf die für diese Prüfung relevanten Umstände im vorliegenden Fall erwähnt der EuGH unter anderem die Tatsache, dass die betroffene Person Beschränkungen bei der Ausübung ihres Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ausgesetzt wäre, gegebenenfalls verbunden mit besonderen Schwierigkeiten, sich weiter in die Niederlande oder einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort tatsächliche und regelmäßige Bindungen mit Mitgliedern ihrer Familie aufrechtzuerhalten, ihre berufliche Tätigkeit auszuüben oder die notwendigen Schritte zu unternehmen, um dort eine solche Tätigkeit auszuüben. Ebenfalls relevant wäre der Umstand, dass ein Verzicht der betroffenen Person auf die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats nicht möglich gewesen wäre, oder auch die ernsthafte Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung ihrer Sicherheit oder ihrer Freiheit, zu kommen und zu gehen, weil die betroffene Person keinen konsularischen Schutz in Anspruch nehmen könnte.

EuGH, Urteil vom 12.03.2019 - C-221/17

Redaktion beck-aktuell, 12. März 2019.

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