Mutter nimmt Kinder gegen Willen des Vaters mit nach Polen
Im Ausgangsverfahren ging es um zwei polnische Staatsangehörige, die sich seit mindestens 2012 im Vereinigten Königreich aufhielten und dort im Juni 2015 beziehungsweise im Mai 2017 zwei Kinder bekamen. Beide Kinder haben sowohl die polnische als auch die britische Staatsangehörigkeit. 2017 reiste die Mutter nach Polen und nahm ihre Kinder mit. Sie teilte dem Vater mit, dass sie beabsichtige, mit den Kindern dauerhaft in Polen zu bleiben. Der Vater sprach sich dagegen aus. Am 07.11.2018 verklagte die Mutter der Kinder den Vater vor einem polnischen Gericht namens ihrer Kinder auf monatliche Unterhaltszahlungen. Die Zuständigkeit dieses Gerichts wurde vom Vater nicht gerügt, und das Gericht verurteilte ihn, einem jeden der Kinder nach polnischem Recht monatlich Unterhalt zu zahlen. Der Vater legte gegen dieses Urteil vor dem Bezirksgericht Poznań (Polen) Berufung ein. Mittlerweile hat dieses Gericht mit Beschluss vom 24.05.2019 die Mutter angewiesen, bis spätestens 26.06.2019 die Kinder an den Vater zurückzugeben, denn sie seien widerrechtlich in Polen zurückgehalten worden, und ihr gewöhnlicher Aufenthalt habe sich unmittelbar zuvor im Vereinigten Königreich befunden. Die Mutter kam dieser Weisung innerhalb der gesetzten Frist jedoch nicht nach.
Polnisches Gericht richtet Vorlagefrage zu gewöhnlichem Aufenthalt eines Kindes an EuGH
Im Nachgang zu diesem Beschluss wirft das Bezirksgericht Poznań, das mit der Berufung des Vaters gegen seine Verurteilung zur monatlichen Kindesunterhaltszahlung befasst ist, die Frage auf, nach welchem Recht sich die in Rede stehende Unterhaltspflicht beurteilt. Nach dem Haager Protokoll sei für Unterhaltsansprüche das Recht des Staates zur Anwendung berufen, in dem der Berechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Das Bezirksgericht Poznań möchte daher vom EuGH wissen, ob ein Kind als Unterhaltsberechtigter, soweit es darum geht, nach welchem Recht sich sein Anspruch auf Unterhalt bestimmt, einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Staat begründen kann, in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, wenn ein Gericht seine Rückkehr in den Staat angeordnet hat, in dem es unmittelbar vor dem widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Während das Verfahren vor dem Gerichtshof anhängig war, ist der Beschluss vom 24.05.2019 teilweise vom polnischen Obersten Gericht (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) aufgehoben worden.
EuGH: Gerichtliche Rückkehranordnung schließt gewöhnlichen Aufenthalt nicht aus
Zu der Frage, welches Recht auf den Unterhaltsanspruch eines Kindes anwendbar ist, das von einem seiner Elternteile in das Gebiet eines Mitgliedstaats verbracht worden ist, stellt der EuGH fest, dass der Umstand, dass ein Gericht dieses Mitgliedstaats im Rahmen eines gesonderten Verfahrens die Rückkehr dieses Kindes in den Staat angeordnet hat, in dem es vor seinem Verbringen mit seinen Eltern seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, es noch nicht ausschließt, dass das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des genannten Mitgliedstaats begründen kann. Bei der Auslegung des Begriffs "gewöhnlicher Aufenthalt" des Unterhaltsberechtigten prüft der Gerichtshof, ob nicht der Umstand, dass dieser Berechtigte widerrechtlich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgehalten wird, der Verlagerung seines gewöhnlichen Aufenthalts in diesen Mitgliedstaat entgegensteht. Für den Begriff "gewöhnlicher Aufenthalt" des Unterhaltsberechtigten finde sich im Haager Protokoll keine Definition. Dem Adjektiv "gewöhnlich" lasse sich entnehmen, dass der fragliche Aufenthalt einen hinreichenden Grad an Beständigkeit aufweisen muss. Das schließe vorübergehende oder gelegentliche Aufenthalte aus.
Engster Bezug zu Situation des Unterhaltsberechtigten entscheidend
Sodann betont der Gerichtshof, dass grundsätzlich das Recht des Staates, in dem der Unterhaltsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, offenbar den engsten Bezug zu seiner Situation aufweist, weil Bestehen und Höhe der Unterhaltspflicht unter Berücksichtigung der rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen des sozialen Umfelds desjenigen Landes bestimmt werden müssen, in dem der Berechtigte lebt und in dem er hauptsächlich seine Tätigkeiten ausübt. Folglich sei der gewöhnliche Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten dort zu verorten, wo dieser tatsächlich seinen Lebensmittelpunkt hat. Dabei seien das familiäre und soziale Umfeld des Unterhaltsberechtigten zu berücksichtigen, und zwar insbesondere bei Kindern geringen Alters. Das Kindeswohl müsse nämlich gebührend Berücksichtigung finden, was es unter anderem erfordert, sich dessen zu vergewissern, dass das Kind im Hinblick auf das familiäre und soziale Umfeld, in dem es sein Leben verbringt, über ausreichende Mittel verfügt.
Auch bei widerrechtlicher Verbringung Fokus auf Kindeswohl
Wird der Berechtigte widerrechtlich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgehalten, liefe es nach Auffassung des EuGH dem zu berücksichtigenden Kindeswohl zuwider, wenn das Vorliegen einer gerichtlichen Entscheidung eines Mitgliedstaats, mit der die Widerrechtlichkeit des Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes festgestellt wird, es dem Grundsatz nach verhindert, dass von einem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausgegangen werden kann. Für die Bestimmung des anwendbaren Rechts könne somit das angerufene nationale Gericht lediglich im Zusammenhang mit einer Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls unter gebührender Berücksichtigung des Kindeswohls dazu veranlasst sein, zu berücksichtigen, dass das Kind womöglich rechtswidrig verbracht wurde oder zurückgehalten wird. Daher müsse das vorlegende Gericht prüfen, ob in Anbetracht sämtlicher für die Situation des Kindes einschlägiger Umstände und im Hinblick auf dessen familiäres und soziales Umfeld der Aufenthalt des Kindes in dem Mitgliedstaat, in den es verbracht worden ist, von Stabilität geprägt ist.