Gerichtshof Ungarns darf EuGH-Vorlage untergeordneten Gerichts nicht für rechtswidrig erklären

Ungarn verstößt bei der Behandlung von Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof gegen EU-Recht: Es sei mit diesem nicht vereinbar, dass der Oberste Gerichtshof Ungarns eine EuGH-Vorlage eines untergeordneten Gerichts für rechtswidrig erklärt, entschied der EuGH. Gegen einen vorlegenden Richter dürfe es auch kein Disziplinarverfahren geben. Dies beeinträchtige die richterliche Unabhängigkeit.

Ungarischer Richter legte EuGH Fragen vor

Hintergrund ist ein Verfahren gegen einen Schweden, der bei der ersten Vernehmung in Ungarn von einen Dolmetscher unterstützt wurde. Allerdings gibt es in Ungarn keine Standards dafür, wer in Strafverfahren als Übersetzer oder Dolmetscher bestellt werden kann. Daher könnten weder Rechtsanwälte noch Richter die Qualität der Dolmetschleistungen überprüfen. Der zuständige Richter entschied, den EuGH unter anderem zu fragen, ob dies mit EU-Recht vereinbar sei. Der ungarische Generalstaatsanwalt legte gegen diese Entscheidung Rechtsmittel ein. Der Oberste Gerichtshof Ungarns erklärte das Vorabersuchen daraufhin für rechtswidrig, weil die Fragen unerheblich seien. Dies änderte jedoch nichts daran, dass sie dennoch beim EuGH eingereicht wurden. Auch wurde gegen den Richter des zuständigen untergeordneten Gerichts ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das inzwischen zurückgezogen wurde.

Nur der EuGH darf Zulässigkeit einer Vorabentscheidung prüfen

Laut EuGH verstößt die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Vorabentscheidungsersuchens durch das Oberste Gericht gegen EU-Recht. Der Gerichtshof unterstreicht, dass ausschließlich er für die Prüfung der Zulässigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens zuständig sei. Eine solche Feststellung der Rechtswidrigkeit könne zudem die Autorität der EuGH-Entscheidungen schwächen und die Ausübung der Vorlage-Befugnis der mitgliedstaatlichen Gerichte begrenzen, sodass sie den wirksamen gerichtlichen Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte beschränken könne. Der EuGH weist darauf hin, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unter diesen Umständen das untergeordnete Gericht verpflichte, die Entscheidung des Höchstgerichts des betreffenden Mitgliedstaats außer Acht zu lassen. Dass der EuGH in der Folge die Unzulässigkeit der durch dieses untergeordnete Gericht gestellten Vorlagefragen feststellen könnte, ändere nichts an dieser Schlussfolgerung.

Disziplinarverfahren gegen vorlegenden Richter unionsrechtswidrig

Auch die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen einen Richter, der eine Vorlage an den EuGH richte, verstoße gegen EU-Recht. Denn schon die bloße Aussicht, diesem ausgesetzt zu sein, könne den in Art. 267 AEUV vorgesehenen Mechanismus und die richterliche Unabhängigkeit, die für das reibungslose Funktionieren dieses Mechanismus von wesentlicher Bedeutung sei, beeinträchtigen. Zudem könne ein solches Disziplinarverfahren sämtliche mitgliedstaatlichen Gerichte davon abhalten, Vorabentscheidungsersuchen einzureichen, was die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefährden könnte.

EU-Staaten müssen ausreichende Qualität der Dolmetschleistungen gewährleisten

Hinsichtlich der Frage zu Dolmetschern in Strafverfahren betont der EuGH, dass die Mitgliedstaaten eine ausreichende Qualität der Dolmetschleistungen gewährleisten müssen. Die verdächtige oder beschuldigte Person müsse den gegen sie erhobenen Tatvorwurf verstehen können. Die Einrichtung eines Registers mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern stelle insoweit eines der Mittel dar, um dieses Ziel zu verfolgen. Ferner müssten die nationalen Gerichte die Qualität der Dolmetschleistungen überprüfen können, damit ein faires Verfahren und die Ausübung der Verteidigungsrechte gewährleistet seien.

EuGH, Urteil vom 23.11.2021 - C-564/19

Redaktion beck-aktuell, 23. November 2021 (ergänzt durch Material der dpa).