Ungarn und Polen verlieren Streit um Rechtsstaatsmechanismus
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Jetzt ist es vom Europäischen Gerichtshof höchstrichterlich bestätigt: Der Mechanismus zur Ahndung von Verstößen gegen den Rechtsstaat verstößt nicht gegen EU-Recht. Die EU-Kommission könnte nun vorschlagen, Zahlungen an Länder wie Polen und Ungarn zu kürzen. Die Richter in Luxemburg wiesen am Mittwoch Klagen der beiden Länder ab und machten den Weg für die Anwendung des sogenannten EU-Rechtsstaatsmechanismus frei.

Polen und Ungarn klagten gegen Verordnung

Konkret geht es um die "Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit", die seit Anfang 2021 in Kraft ist. Sie soll dafür sorgen, dass Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien wie die Gewaltenteilung nicht mehr ungestraft bleiben, wenn dadurch ein Missbrauch von EU-Geldern in einem Land droht. Dann kann die EU-Kommission vorschlagen, die Auszahlung von Mitteln aus dem EU-Haushalt zu kürzen. Polen und Ungarn sehen sich besonders im Fokus und klagten deshalb vor dem EuGH. Die EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen wollte bis zum Urteil warten, ehe sie den Mechanismus auslöst. So sieht es auch eine Einigung der Staats- und Regierungschefs vom Sommer 2020 vor, mit der man die Regierungen in Budapest und Warschau dazu gebracht hatte, ihre Blockade wichtiger EU-Haushaltsentscheidungen aufzugeben.

EU darf die eigenen Werte verteidigen

Das Ziel der Verordnung besteht laut EuGH darin, den Unionshaushalt vor Beeinträchtigungen zu schützen, die sich aus Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ergeben. Sie ziele nicht darauf, derartige Verstöße als solche zu ahnden. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf beruhe, dass diese die gemeinsamen Werte achten, auf die sich die Union gründet. Diese Werte hätten die Mitgliedstaaten festgelegt, und sie seien ihnen gemeinsam. Zu ihnen zählten Rechtsstaatlichkeit und Solidarität. Da die Achtung der gemeinsamen Werte somit eine Voraussetzung für den Genuss all jener Rechte sei, die sich aus der Anwendung der Verträge auf einen Mitgliedstaat ergeben, müsse die Union auch in der Lage sein, diese Werte im Rahmen der ihr übertragenen Aufgaben zu verteidigen.  

Grenzen der EU-Zuständigkeiten eingehalten

Weiter stellt der Gerichtshof fest, dass das durch die Verordnung eingeführte Verfahren nicht das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren umgeht und dass es mit den Grenzen der Zuständigkeiten der Union im Einklang steht. Zweck des in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrens sei es nämlich, dem Rat die Möglichkeit zu geben, schwerwiegende und anhaltende Verletzungen eines jeden der gemeinsamen Werte, auf die sich die Union gründet und die ihre Identität ausmachen, zu ahnden, und zwar insbesondere mit dem Ziel, den betreffenden Mitgliedstaat dazu anzuhalten, diese Verletzungen abzustellen. Dagegen ziele die Verordnung darauf ab, den Haushalt der Union zu schützen, und zwar allein im Fall eines in einem Mitgliedstaat begangenen Verstoßes gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der die ordnungsgemäße Ausführung des Haushaltsplans der Union beeinträchtige oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohe. Mithin verfolgen das sogenannte Artikel-7-Verfahren und das mit der Verordnung eingeführte Verfahren unterschiedliche Ziele, und jedes dieser Verfahren habe einen eigenen, klar abgegrenzten Gegenstand.

Enges Korsett für mögliche Maßnahmen

Abschließend weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Verordnung für die Annahme der in ihr vorgesehenen Schutzmaßnahmen voraussetzt, dass ein echter Zusammenhang zwischen einem Verstoß und einer Bedrohung der Haushaltsführung festgestellt wird. Zudem müsse ein solcher Verstoß einen Umstand oder ein Verhalten betreffen, der bzw. das einer Behörde eines Mitgliedstaats zurechenbar und für die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union von Bedeutung ist. Der Ausdruck "ernsthaft drohend" werde im Haushaltsrecht der Union präzisiert. Außerdem hebt der Gerichtshof hervor, dass die in Betracht kommenden Schutzmaßnahmen strikt im Verhältnis zur Auswirkung des festgestellten Verstoßes auf den Haushalt der Union stehen müssen. Insbesondere könnten diese Maßnahmen ausschließlich im Rahmen dessen, was zur Erreichung des Ziels des Haushaltsschutzes unbedingt erforderlich ist, auf andere Aktionen und Programme als die von einem solchen Verstoß betroffenen abzielen. Im Übrigen müsse die Kommission strenge Verfahrenserfordernisse beachten. Sodann kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Verordnung den Erfordernissen des Grundsatzes der Rechtssicherheit genügt und wies die Klagen Ungarns und Polens in vollem Umfang ab. 

Umsetzung noch offen

Ob und wie schnell die EU-Kommission den Mechanismus nun auslöst, ist unklar. Zum einen muss sie unter Berücksichtigung des Urteils noch die Leitlinien zur Anwendung des Instruments fertigstellen. Hinzu kommen politische Erwägungen: Polen ließ zuletzt vorsichtige Signale einer Annäherung an Brüssel erkennen. In Ungarn steht Anfang April die Parlamentswahl an. Sollte die EU-Kommission zuvor den Rechtsstaatsmechanismus auslösen, könnte dies als Einmischung in den Wahlkampf verstanden werden. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dämpfte nach dem Urteil jedenfalls Erwartungen nach baldigen Strafen gegen Ungarn oder Polen. Sie unterstrich in einer ersten Stellungnahme ihre Entschlossenheit zum Schutz des EU-Haushalts. Ihre Behörde werde nun aber erst einmal gründlich die Begründung des Urteils und mögliche Auswirkungen analysieren. In den kommenden Wochen werde man dann die Leitlinien zur Anwendung des Mechanismus beschließen. Von der Leyen betonte, die Kommission habe seit Inkrafttreten der Verordnung vor einem Jahr die Lage in allen EU-Staaten beobachtet. Jeder Fall werde eingehend geprüft. "Wenn die Voraussetzungen der Verordnung erfüllt sind, werden wir entschlossen handeln." Sie habe versprochen, dass kein Fall verloren gehen werde - und dieses Versprechen auch gehalten. Das Europaparlament fordert seit längerer Zeit, entschlossener als bisher gegen Ungarn und Polen vorzugehen.

Ungarns Justizministerin erhebt schwere Vorwürfe gegen EuGH

Ungarn hat mit schweren Vorwürfen auf das Urteil reagiert. Das Gericht habe einen "politisch motivierten Spruch" gefällt, weil Ungarn jüngst ein Gesetz zum Kindesschutz in Kraft gesetzt habe, schrieb Justizministerin Judit Varga am Mittwoch auf ihrem Twitter-Konto. "Die Entscheidung ist ein lebender Beweis dafür, wie Brüssel seine Macht missbraucht." Varga spielte auf ein vergangenes Jahr verabschiedetes Gesetz an, das Kinder und Jugendliche in Ungarn vor bestimmten Inhalten und Darstellungen zur Sexualität schützen soll. Kritiker sehen darin das Bestreben, homosexuelle und transsexuelle Menschen auszugrenzen und Jugendliche von Informationen zu diesen Themen abzuschneiden. Die EU hatte deswegen ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Der Vorgang steht in keinem Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsmechanismus.

EuGH, Urteil vom 16.02.2022 - C-156/21

Redaktion beck-aktuell, 16. Februar 2022 (ergänzt durch Material der dpa).