Familienzusammenführung beantragt
Eine Minderjährige mit eritreischer Staatsangehörigkeit, die unbegleitet in die Niederlande eingereist war, stellte am 26.02.2014 einen Asylantrag. Sie wurde am 02.06.2014 volljährig. Am 21.10.2014 erteilte der niederländische Staatssekretär ihr einen auf fünf Jahre befristeten Aufenthaltstitel für Asylberechtigte, der auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags zurückwirkte. Am 23.12.2014 stellte eine niederländische Organisation, die sich um Flüchtlinge kümmert (VluchtelingenWerk Midden-Nederland), einen Antrag auf Erteilung eines vorläufigen Aufenthaltstitels für die Eltern der Minderjährigen und für ihre drei minderjährigen Brüder im Rahmen der Familienzusammenführung mit einem unbegleiteten Minderjährigen.
Antrag unter Verweis auf mittlerweile eingetretene Volljährigkeit abgelehnt
Mit Entscheidung vom 27.05.2015 lehnte der Staatssekretär diesen Antrag mit der Begründung ab, die Tochter sei zum Zeitpunkt der Antragstellung volljährig gewesen. Gegen diese Ablehnung gehen die Eltern der Betroffenen vor. Sie sind der Auffassung, dass es für die Frage, ob jemand ein "unbegleiteter Minderjähriger" im Sinne der Richtlinie über die Familienzusammenführung (RL 2003/86/EG) ist, auf den Zeitpunkt ankommt, zu dem er in den Mitgliedstaat einreist. Nach Ansicht des Staatssekretärs ist dafür der Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung maßgeblich.
EuGH stellt auf Minderjährigkeit zum Zeitpunkt des Asylantrags ab
Die mit der Rechtssache befasste Rechtbank Den Haag (Gericht von Den Haag, Niederlande) hat dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt. Dieser hat Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die zum Zeitpunkt ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung ihres Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt sind, während des Asylverfahrens volljährig werden und denen später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als "Minderjährige" eingestuft. Der Gerichtshof weist insoweit darauf hin, dass die Richtlinie für Flüchtlinge günstigere Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung vorsieht, weil ihrer Lage wegen der Gründe, die sie zur Flucht aus ihrem Heimatland gezwungen haben und sie daran hindern, dort ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Insbesondere hätten unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ein Recht auf eine Familienzusammenführung, das nicht in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt ist.
Bestimmung des Zeitpunkts kann nicht Mitgliedstaaten überlassen werden
Die Richtlinie regele zwar nicht ausdrücklich, bis zu welchem Zeitpunkt ein Flüchtling minderjährig sein muss, um das spezielle Recht auf Familienzusammenführung (Art. 10 Abs. 3a RL 2003/86/EG) in Anspruch nehmen zu können. Doch könne die Bestimmung dieses Zeitpunkts nicht dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen bleiben, betont der EuGH. Zur Beantwortung der Frage, auf welchen Zeitpunkt zur Beurteilung des Alters eines Flüchtlings letztlich abzustellen ist, damit er als Minderjähriger anzusehen ist und folglich das spezielle Recht auf Familienzusammenführung in Anspruch nehmen kann, prüft der Gerichtshof im Einzelnen den Wortlaut, die Struktur und das Ziel der Richtlinie unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs, in den sie sich einfügt, und der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts.
EuGH: Förmliche Anerkennung als Flüchtling kann nicht maßgebend sein
Er stellt fest, dass die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Familienzusammenführung in Frage gestellt würde, wenn es davon abhinge, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über die Anerkennung des Betroffenen als Flüchtling entscheidet, und damit von der mehr oder weniger schnellen Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz durch diese Behörde. Dies liefe nicht nur dem Ziel der Richtlinie, die Familienzusammenführung zu begünstigen und dabei Flüchtlinge (insbesondere unbegleitete Minderjährige) besonders zu schützen, sondern auch den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit zuwider. Eine solche Auslegung hätte nämlich zur Folge, dass zwei unbegleitete Minderjährige gleichen Alters, die ihren Antrag auf internationalen Schutz zum gleichen Zeitpunkt stellen, je nach der Bearbeitungsdauer ihrer Anträge unterschiedlich behandelt werden könnten. Sie hätte ferner zur Folge, dass es für einen unbegleiteten Minderjährigen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, völlig unvorhersehbar wäre, ob er das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern in Anspruch nehmen können wird, was die Rechtssicherheit beeinträchtigen könnte.
Anknüpfung an Antragstellung gerechter
Im Gegensatz dazu ermögliche es das Anknüpfen an den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz, die gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller zu gewährleisten, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, indem sichergestellt werde, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung in erster Linie von Umständen abhängt, die in der Sphäre der Antragsteller liegen, nicht aber von Umständen, die in der Behördensphäre liegen (wie die Bearbeitungsdauer des Antrags auf internationalen Schutz oder des Antrags auf Familienzusammenführung). In einer solchen Situation müsse jedoch der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer angemessenen Frist gestellt werden, und zwar grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag, an dem der Minderjährige als Flüchtling anerkannt worden ist, so der EuGH abschließend.
Urteil auch für Handhabung des Familiennachzugs in Deutschland relevant
Nach dem Urteil muss nun wohl auch Deutschland den Familiennachzug für Angehörige minderjähriger Flüchtlinge großzügiger gestalten. Zur hiesigen Rechtslage hatte das Auswärtige Amt laut dpa vor dem Urteil ausgeführt: "Der Nachzugsanspruch von Eltern zu einem in Deutschland lebenden, minderjährigen, anerkannten Flüchtling (...) besteht nach ständiger Rechtsprechung nur vor Eintritt der Volljährigkeit des Kindes. Ein Visum kann daher nur erteilt werden, solange das Kind minderjährig ist."