EuGH: Typengenehmigung von Kraftfahrzeugen muss anfechtbar sein
thermofenster_CR_RainerFuhrmann_adobe
© Rainer Fuhrmann / stock.adobe.com
thermofenster_CR_RainerFuhrmann_adobe

Anerkannte Umweltvereinigungen müssen eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge, die mit möglicherweise verbotenen "Abschalteinrichtungen" ausgestattet sind, vor Gericht anfechten können. Das entschied heute der Europäische Gerichtshof und stellte mit Blick auf "Thermofenster" nochmals fest, dass eine Software für Dieselfahrzeuge, die die Wirkung des Emissionskontrollsystems bei üblichen Temperaturen und während des überwiegenden Teils des Jahres verringert, eine solche unzulässige Abschalteinrichtung darstellt.

DUH sieht in Thermofenster eine unzulässige Abschalteinrichtung

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH), eine nach deutschem Recht zur Einlegung von Rechtsbehelfen berechtigte anerkannte Umweltvereinigung, ficht vor dem Verwaltungsgericht Schleswig die Entscheidung des Kraftfahrt-Bundesamts an, mit der für bestimmte Fahrzeuge der Marke Volkswagen die Verwendung einer Thermofenster-Software genehmigt wurde. Die fragliche Software legt ein Thermofenster fest, bei dem die Abgasrückführungsrate bei einer Umgebungstemperatur unter -9 Grad Celsius bei 0% liegt, zwischen -9 und 11 Grad Celsius bei 85% und über 11 Grad Celsius ansteigt, um erst ab einer Umgebungstemperatur von über 15 Grad Celsius 100% zu erreichen. Bei der in Deutschland festgestellten Durchschnittstemperatur von 10,4 Grad Celsius im Jahr 2018 liegt die Abgasrückführungsrate also nur bei 85%. Nach Auffassung der DUH stellt ein solches Thermofenster eine gemäß dem Unionsrecht unzulässige Abschalteinrichtung dar.

EuGH stärkt DUH und bejaht Klagebefugnis

Deutschland, gegen das sich die Klage richtet, macht geltend, dass die DUH für eine Anfechtung der streitigen Entscheidung, mit der eine EG-Typgenehmigung geändert wird, nicht klagebefugt und ihre Klage daher unzulässig sei. Im Übrigen sei das in Rede stehende Thermofenster mit dem Unionsrecht vereinbar. Das angerufene VG hat den EuGH um Auslegung gebeten. Der Gerichtshof entschied, dass das Übereinkommens von Aarhus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten in Verbindung mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) dahin auszulegen ist, dass es einer Umweltvereinigung, die nach nationalem Recht zur Einlegung von Rechtsbehelfen berechtigt ist, nicht verwehrt werden darf, eine Verwaltungsentscheidung, mit der eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt oder geändert wird, die möglicherweise gegen das Verbot der Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, verstößt, vor einem innerstaatlichen Gericht anzufechten. Das Übereinkommen von Aarhus verpflichte nämlich in Verbindung mit der Charta die Mitgliedstaaten dazu, einen wirksamen gerichtlichen Schutz zu gewährleisten, und verbiete es ihnen, Umweltvereinigungen jede Möglichkeit zu nehmen, die Beachtung bestimmter Vorschriften des Unionsumweltrechts überprüfen zu lassen.

EuGH: Thermofenster eine Abschalteinrichtung

Der EuGH erinnert in seiner heutigen Entscheidung zudem daran, dass er in Bezug auf ein identisches Thermofenster bereits im Juli entschieden hat, dass eine Einrichtung, die die Einhaltung der in dieser Verordnung vorgesehenen Emissionsgrenzwerte nur gewährleistet, wenn die Außentemperatur zwischen 15 und 33 Grad Celsius liegt und der Fahrbetrieb unterhalb von 1.000 Höhenmetern erfolgt, eine "Abschalteinrichtung" darstellt. Nach der Verordnung Nr. 715/2007 sei die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, unzulässig. Jedoch könne eine Abschalteinrichtung, wie bereits entschieden, ausnahmsweise zulässig sein, wenn nachgewiesen ist, dass diese Einrichtung ausschließlich notwendig sei, um die durch eine Fehlfunktion eines Bauteils des Abgasrückführungssystems verursachten unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall zu vermeiden, Risiken, die so schwer wiegen, dass sie eine konkrete Gefahr beim Betrieb des mit dieser Einrichtung ausgestatteten Fahrzeugs darstellen. Ob dies hier der Fall ist, habe das vorlegende Gericht zu prüfen, so die Luxemburger Richter weiter.

Ausnahmen müssen Ausnahmen bleiben

Allerdings weist der Gerichtshof darauf hin, dass eine solche "Notwendigkeit" der Verwendung einer Abschalteinrichtung nur dann gegeben sei, wenn zum Zeitpunkt der EG-Typgenehmigung dieser Einrichtung oder des mit ihr ausgestatteten Fahrzeugs keine andere technische Lösung unmittelbare Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall, die beim Fahren eines Fahrzeugs eine konkrete Gefahr hervorrufen, abwenden können. Aber auch beim Vorliegen der oben beschriebenen Notwendigkeit sei die Abschalteinrichtung, wenn sie während des überwiegenden Teils des Jahres unter normalen Fahrbedingungen funktionieren sollte, unzulässig. Denn ließe man eine solche Einrichtung zu, würde dies dazu führen, dass die Ausnahme häufiger zur Anwendung käme als das Verbot, wodurch der Grundsatz der Begrenzung der Stickstoffoxid (NOx)-Emissionen unverhältnismäßig beeinträchtigt würde.

EuGH, Urteil vom 08.11.2022 - C-873/19

Gitta Kharraz, 8. November 2022.