Tragweite des Grundsatzes "ne bis in idem" bei der Vollstreckung eines EU-Haftbefehls

Der Europäische Gerichtshof klärt die Tragweite des Grundsatzes "ne bis in idem", der bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls für Handlungen gilt, die bereits Gegenstand einer früheren Verurteilung in einem Drittland waren. Die vollstreckende Justizbehörde müsse über einen Ermessensspielraum verfügen, um bestimmen zu können, ob die Vollstreckung aus dem fraglichen Grund abzulehnen ist oder nicht. Sodann sei der Begriff "dieselbe Handlung" einheitlich auszulegen.

Grundsatz "ne bis in idem" gegen Vollstreckung eines EU-Haftbefehls eingewendet

Im September 2019 stellten deutsche Behörden einen Europäischen Haftbefehl gegen X aus, um gegen ihn wegen im Jahr 2012 an seiner Lebensgefährtin und deren Tochter verübter Handlungen ein Strafverfahren durchführen zu können. Im März 2020 wurde X in den Niederlanden aufgegriffen. Er widersprach seiner Übergabe an die deutschen Behörden und machte geltend, wegen der vorgeworfenen Handlungen bereits im Iran verfolgt und rechtskräftig verurteilt worden zu sein. Genauer gesagt sei er wegen eines Teils der Handlungen freigesprochen und wegen des anderen Teils zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, die er fast vollständig verbüßt habe, bevor er in den Genuss eines Straferlasses gekommen sei. Dieser sei ihm in Folge einer allgemeinen Begnadigungsmaßnahme gewährt worden, die von einer Behörde, die keine Justizbehörde sei, nämlich dem Obersten Führer des Iran, anlässlich des 40. Jahrestages der Islamischen Revolution verkündet worden sei. X meint, der Vollstreckung des ihn betreffenden Europäischen Haftbefehls stehe aufgrund seiner früheren Verurteilung im Iran der Grundsatz ne bis in idem, wie er in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses über den Haftbefehl genannt und in niederländisches Recht umgesetzt ist, entgegen.

Rechtlicher Hintergrund

Nach Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses über den Haftbefehl kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung verweigern, wenn die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann. Dieser Grund, "aus dem die Vollstreckung abgelehnt werden kann", ist dem in Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Grund, "aus dem die Vollstreckung abzulehnen ist", ähnlich. Dabei betrifft Letzterer allerdings nicht ein von einem Drittstaat, sondern von einem Mitgliedstaat erlassenes Urteil.

Amsterdamer Gericht hat Zweifel an seinem Ermessensspielraum

In diesem Zusammenhang hat die Rechtbank Amsterdam (Gericht Amsterdam, Niederlande) beschlossen, den Gerichtshof um die Auslegung von Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses zu ersuchen. Das Gericht, das über die Übergabe von X zu befinden hat, hat nämlich Zweifel hinsichtlich des ihm in einem solchen Fall eingeräumten Ermessensspielraums hinsichtlich des Begriffs "dieselbe Handlung" in diesem Artikel, da die iranischen Gerichte nicht ausdrücklich über bestimmte Handlungen, die X in Deutschland zur Last gelegt werden, entschieden haben, und hinsichtlich der Tragweite der Voraussetzung, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion "bereits vollstreckt worden ist oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann".

EuGH: Begriff "dieselbe Handlung" einheitlich auszulegen

Mit seinem Urteil, das im Rahmen eines Eilverfahrens ergangen ist, stellt der EuGH zunächst fest, dass die vollstreckende Justizbehörde über einen Ermessensspielraum verfügen muss, um bestimmen zu können, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus dem fraglichen Grund abzulehnen ist oder nicht. Sodann müsse der Begriff "dieselbe Handlung" einheitlich ausgelegt werden. Schließlich sei die Voraussetzung der Vollstreckung der Sanktion in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfüllt.

Mitgliedstaaten müssen Justizbehörden Ermessensspielraum belassen

Als Erstes weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Rahmenbeschluss zum einen die Gründe nennt, aus denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, und zum anderen die Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann, bei denen es den Mitgliedstaaten überlassen ist, sie in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen oder nicht. Setzen sie die letzteren Gründe um, könnten die Mitgliedstaaten jedoch nicht vorsehen, dass die Justizbehörden gehalten sind, automatisch die Vollstreckung jedes betroffenen Europäischen Haftbefehls abzulehnen. Denn die Justizbehörden müssten einen Ermessensspielraum haben, der es ihnen ermöglicht, eine Prüfung in jedem einzelnen Fall vorzunehmen, indem sie alle erheblichen Umstände berücksichtigen. Ihnen diese Möglichkeit zu nehmen, würde dazu führen, eine bloße Möglichkeit, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern, durch eine echte Verpflichtung zu ersetzen, obwohl diese Weigerung die Ausnahme und die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die grundsätzliche Regel darstellt.

Hohes Vertrauen in Strafrechtssystem von Drittländern nicht zu vermuten

Des Weiteren unterstreicht der EuGH den Unterschied zu dem Grund, aus dem die Vollstreckung abzulehnen ist, gemäß Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses. Die Anwendung dieses Grundes lasse der vollstreckenden Justizbehörde demgegenüber keinerlei Ermessensspielraum. Die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, die zwischen den Mitgliedstaaten gelten und sie zu der Annahme verpflichten, dass jeder von ihnen das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte beachtet, seien nämlich nicht automatisch auf die Urteile übertragbar, die von drittstaatlichen Gerichten erlassen werden. Ein hohes Maß an Vertrauen in das Strafrechtssystem, wie dieses unter den Mitgliedstaaten besteht, könne daher in Bezug auf Drittländer nicht vermutet werden. Aus diesem Grund müsse der vollstreckenden Justizbehörde ein Ermessensspielraum zuerkannt werden.

Begriff "dieselbe Handlung" einheitlich auszulegen

Als Zweites stellt der Gerichtshof fest, dass der Begriff "dieselbe Handlung", der in Art. 3 Nr. 2 und in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses enthalten ist, einheitlich auszulegen ist. Aus Gründen der Kohärenz und der Rechtssicherheit müsse diesen beiden identisch gefassten Begriffen dieselbe Tragweite beigemessen werden. Der Umstand, dass Art. 3 Nr. 2 in der Union ergangene Urteile betrifft, während sich Art. 4 Nr. 5 auf Urteile bezieht, die in Drittstaaten ergangen sind, vermöge es als solcher nicht zu rechtfertigen, diesem Begriff eine unterschiedliche Bedeutung beizulegen.

Voraussetzung der Vollstreckung der Sanktion wohl erfüllt

Als Drittes stellt der EuGH fest, dass die in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Voraussetzung der Vollstreckung der Sanktion in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfüllt ist. Insoweit betont er, dass in diesem Artikel in allgemeiner Form vom "Recht des Urteilsstaats" die Rede ist, ohne nähere Erläuterung, warum nicht vollstreckt werden kann. Dabei sind die Schwere der Handlung, die Art der Behörde, die die Maßnahme gewährt hat, oder die Erwägungen, auf denen diese Maßnahme beruht, wenn sie beispielsweise nicht auf objektive Erwägungen der Strafpolitik gestützt wird, unerheblich. Der Gerichtshof führt jedoch weiter aus, dass die vollstreckende Justizbehörde bei der Ausübung des Ermessenspielraumes, über den sie verfügt, um den in Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Grund, aus dem die Vollstreckung abgelehnt werden kann, anzuwenden, eine Abwägung vornehmen muss. Dabei sind zum einen die Vermeidung der Straflosigkeit der Personen, die verurteilt worden sind, und die Bekämpfung der Kriminalität und zum anderen die Gewährleistung der Rechtssicherheit dieser Personen durch die Beachtung von rechtskräftig gewordenen Entscheidungen öffentlicher Behörden miteinander in Einklang zu bringen. Der Grundsatz ne bis in idem, der im Rahmenbeschluss sowohl in Art. 3 Nr. 2 als auch in Art. 4 Nr. 5 enthalten ist, umfasse diese beiden Aspekte.

EuGH, Urteil vom 29.04.2021 - C-665/20

Redaktion beck-aktuell, 29. April 2021.