Straftatopfer konnte nicht geortet werden
Die Kläger des Ausgangsverfahrens sind Angehörige einer siebzehnjährigen Jugendlichen, die Opfer einer Straftat wurde. Sie wurde am 21.09.2013 gegen sechs Uhr morgens in einem Vorort von Panevėžys (Litauen) entführt, vergewaltigt und im Kofferraum eines Autos lebendig verbrannt. Während sie im Kofferraum eingesperrt war, sandte sie mit einem Mobiltelefon unter der europaweit einheitlichen Notrufnummer 112 etwa ein Dutzend Mal einen Hilferuf an das litauische Notfallzentrum. Den dortigen Bediensteten wurde jedoch die Nummer des verwendeten Mobiltelefons nicht angezeigt, so dass dessen Standort nicht ermittelt werden konnte. Es ließ sich nicht feststellen, ob das Mobiltelefon über eine SIM-Karte verfügte und warum seine Nummer im Notfallzentrum nicht angezeigt wurde.
Angehörige verklagen Litauen auf Schadensersatz
Die Kläger verlangen vom litauischen Staat Ersatz des dem Opfer und ihnen selbst entstandenen immateriellen Schadens. Sie stützen ihre Klage darauf, dass Litauen nicht für die ordnungsgemäße praktische Umsetzung der Universaldienstrichtlinie 2002/22/EG gesorgt habe. Danach müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Telekommunikationsunternehmen den die Notrufe bearbeitenden Stellen unmittelbar nach Eingang des Anrufs bei diesen Stellen gebührenfrei Informationen zum Anruferstandort übermittelten. Dies gelte für alle Anrufe unter der einheitlichen europäischen Notrufnummer 112. Wegen der mangelhaften Umsetzung der Richtlinie hätten den örtlichen Polizeidienststellen die Angaben zum Standort des Opfers nicht übermittelt werden können, so dass sie daran gehindert gewesen seien, Hilfe zu leisten.
Vorlage zum Umfang der Informationspflicht
Das Vorlagegericht, das regionale Verwaltungsgericht Vilnius (Litauen) wollte vom EuGH wissen, ob die Universaldienstrichtlinie den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, die Übermittlung der Standortangaben auch dann sicherzustellen, wenn der Anruf von einem Mobiltelefon ohne SIM-Karte aus getätigt wird, und ob die Mitgliedstaaten über ein Ermessen bei der Festlegung der Kriterien für die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Angaben zum Standort des Anrufers der Nummer 112 verfügen, das es ihnen gestattet, diese Angaben auf die Nennung der Basisstation zu beschränken, über die der Anruf übermittelt wurde.
EuGH: Übermittlungspflicht auch bei Anrufen von Handys ohne SIM-Karte
Der EuGH weist darauf hin, dass nach dem Wortlaut der Universaldienstrichtlinie "alle Anrufe unter der einheitlichen europäischen Notrufnummer“ von der Pflicht zur Übermittlung von Informationen zum Anruferstandort erfasst würden. Überdies habe der EuGH bereits entschieden, dass die Universaldienstrichtlinie in ihrer ursprünglichen Fassung den Mitgliedstaaten unter der Voraussetzung der technischen Durchführbarkeit eine Erfolgspflicht auferlegt habe, die sich nicht auf die Einrichtung eines angemessenen Rechtsrahmens beschränke, sondern verlange, dass die Informationen zum Standort aller Anrufer der Nummer 112 tatsächlich den Notdiensten übermittelt werden. Daher könnten Anrufe unter der Nummer 112, die von einem Mobiltelefon ohne SIM-Karte aus getätigt würden, nicht vom Anwendungsbereich der Universaldienstrichtlinie ausgeschlossen werden. Infolgedessen erlege die Universaldienstrichtlinie den Mitgliedstaaten vorbehaltlich der technischen Durchführbarkeit die Verpflichtung auf sicherzustellen, dass die betreffenden Unternehmen den die Notrufe unter der Nummer 112 bearbeitenden Stellen unmittelbar nach Eingang des Anrufs bei diesen Stellen gebührenfrei Informationen zum Anruferstandort übermitteln, auch wenn der Anruf von einem Mobiltelefon ohne SIM-Karte aus getätigt werde.
Effektive Ermittlung des Anruferstandorts zu gewährleisten
Bei der Festlegung der Kriterien für die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Angaben zum Standort des Anrufers der Nummer 112 verfügten die Mitgliedstaaten zwar über ein gewisses Ermessen, fährt der EuGH fort. Die Kriterien müssten aber im Rahmen der technischen Machbarkeit stets gewährleisten, dass der Standort des Anrufers so zuverlässig und genau bestimmt werden könne, wie es erforderlich sei, damit die Notdienste ihm wirksam helfen können. Das den Mitgliedstaaten bei der Festlegung dieser Kriterien zustehende Ermessen finde seine Grenze daher darin, dass gewährleistet sein müsse, dass die übermittelten Angaben eine effektive Ermittlung des Anruferstandorts ermöglichen, damit die Notdienste tätig werden können. Da die Beurteilung dieser Gegebenheiten in hohem Maß technischen Charakter habe und eng mit den Besonderheiten des litauischen Mobilfunknetzes verbunden sei, sei sie Sache des vorlegenden Gerichts.
Keine strengeren Haftungsvoraussetzungen als bei nationaler Staatshaftung
Weiter erläutert der EuGH, dass ein EU-Staatshaftungsanspruch unter anderem einen unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen dem Rechtsverstoß und dem eingetretenen Schaden voraussetze. Die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen dürften jedoch nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die nationales Recht beträfen. Folglich sei ein nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats für den Eintritt der Haftung dieses Staates ausreichender mittelbarer Kausalzusammenhang zwischen einem Rechtsverstoß der nationalen Behörden und dem entstandenen Schaden auch als ausreichend dafür anzusehen, dass der Staat für einen ihm zuzurechnenden Verstoß gegen das Unionsrecht haftet.