Grundsätze des "Taricco"-Urteils
Art. 325 AEUV verpflichtet die EU und die Mitgliedstaaten, Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der EU gerichtete rechtswidrige Handlungen zu bekämpfen und einen effektiven Schutz dieser Interessen zu bewirken. Im "Taricco"-Urteil (BeckRS 2015, 81088) hat der EuGH entschieden, dass die italienischen Vorschriften über die Verjährung von Mehrwertsteuerstraftaten Art. 325 AEUV verletzen könnten, falls sie die Verhängung wirksamer und abschreckender Sanktionen in einer beträchtlichen Zahl gegen die finanziellen Interessen der EU gerichteter schwerer Betrugsfälle verhindern oder für Betrugsfälle zum Nachteil der nationalen finanziellen Interessen längere Verjährungsfristen vorsehen als für Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU. Laut EuGH müssen die nationalen Gerichte zudem Art. 325 AEUV volle Wirkung verleihen, indem sie erforderlichenfalls die Verjährungsvorschriften unangewendet lassen.
Italienische Strafgerichte halten Nichtanwendung der nationalen Verjährungsvorschriften für verfassungswidrig
Der Oberste Kassationsgerichtshof in Itaien (Corte suprema di cassazione) und das mailändische Berufungsgerichtshof (Corte d'appello di Milano) müssen in Strafverfahren wegen des Verdachts des schweren Betrugs im Mehrwertsteuerbereich entscheiden. Die Angeklagten könnten straflos bleiben, wenn die Verjährungsvorschriften des italienischen Strafgesetzbuchs anzuwenden sind. Dagegen könnte es zu einer Verurteilung kommen, wenn sie auf der Grundlage der Grundsätze aus dem "Taricco"-Urteil, das nach Begehung der Taten erging, nicht anzuwenden sind. Die beiden Gerichte meinen aber, dass die "Taricco"-Grundsätze gegen den in der italienischen Verfassung verankerten Gesetzmäßigkeitsgrundsatz im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verstoßen könnten. Sie wandten sich deshalb an den Verfassungsgerichtshof (Corte costituzionale).
Italienischer Verfassungsgerichtshof bezweifelt Vereinbarkeit mit Gesetzmäßigkeitsgrundsatz
Der italienische Verfassungsgerichtshof hat Zweifel an der Vereinbarkeit des im "Taricco"-Urteil gewählten Ansatzes mit den obersten Grundsätzen der italienischen Verfassungsordnung und der Beachtung der unveräußerlichen Rechte der Person. Insbesondere verstoße er möglicherweise gegen den Gesetzmäßigkeitsgrundsatz im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, der unter anderem das Bestimmtheitsgebot und das Rückwirkungsverbot in Strafsachen beinhalte. Er bat daher den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren um Klarstellung, wie Art. 325 AEUV im Licht des "Taricco"-Urteils auszulegen sei.
EuGH: "Taricco"-Grundsätze grundsätzlich anzuwenden
Laut EuGH erlegt Art. 325 AEUV den Mitgliedstaaten zweckgerichtete Verpflichtungen auf, die hinsichtlich ihrer Umsetzung an keine Bedingung geknüpft seien. Die nationalen Gerichte müssten somit den Verpflichtungen, die sich aus Art. 325 AEUV ergeben, volle Wirkung verleihen, indem sie insbesondere die "Taricco"-Grundsätze anwendeten. Der EuGH betont zudem, dass es in erster Linie Aufgabe des nationalen Gesetzgebers sei, die Verjährung so zu regeln, dass sie den Anforderungen von Art. 325 AEUV genüge.
Keine Anwendungsverpflichtung bei Verstoß gegen Gesetzmäßigkeitsgrundsatz
Allerdings dürfe die dem Art. 325 AEUV zu entnehmende Verpflichtung, eine wirksame Erhebung der EU-Mittel zu garantieren, dem Gesetzmäßigkeitsgrundsatz im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen nicht zuwiderlaufen. Die Verjährung in Strafsachen gehöre nach Angaben des italienischen Verfassungsgerichtshofs zum materiellen italienischen Recht und falle daher unter diesen Grundsatz, dem sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in der EU-Rechtsordnung grundlegende Bedeutung zukomme.