EuGH: Strafhaft lässt verstärkten Ausweisungsschutz für EU-Bürger nicht automatisch entfallen

Der (zusätzlich) verstärkte Schutz von EU-Bürgern vor Ausweisung, wenn sie sich in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben, setzt zwingend ein Daueraufenthaltsrecht voraus. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 17.04.2018 entschieden. Sei dies der Fall, stehe die Verbüßung einer Freiheitsstrafe dem verstärkten Ausweisungsschutz nicht entgegen, sofern der Betroffene im Aufnahmemitgliedstaat trotz Haft weiterhin integriert sei (Az.: C-316/16 und C-424/16).

Italiener nach Haft wegen Totschlags aus Großbritannien ausgewiesen

Es ging um zwei Fälle aus Großbritannien und Deutschland. In der Rechtssache C-424/16 beging ein italienischer Staatsangehöriger, der seit 15 Jahren im Vereinigten Königreich lebte, einen Totschlag und wurde deshalb zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach vier Jahren Haft wurde er entlassen und im Jahr darauf aus dem Vereinigten Königreich ausgewiesen. Das britische Vorlagegericht ging davon aus, dass der Ausgangskläger vor seiner Ausweisung kein Daueraufenthaltsrecht erworben hatte. Es wollte daher vom EuGH wissen, ob ein verstärkter Ausweisungsschutz nach der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG zwingend ein Daueraufenthaltsrecht voraussetze oder ob ein Aufenthalt in "den letzten zehn Jahren" im Aufnahmemitgliedstaat einen gesteigerten Ausweisungsschutz auch ohne Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts begründen könne.

Grieche verlor nach Verurteilung Aufenthaltsrecht in Deutschland

In der Rechtssache C-316/16 raubte ein griechischer Staatsangehöriger, der mit vier Jahren nach Deutschland gekommen war, nach zwanzig Jahren Aufenthalt, unterbrochen nur durch einige kurze Urlaubsreisen und einen Aufenthalt von zwei Monaten bei seinem Vater in Griechenland, eine Spielhalle aus und wurde deshalb zu knapp sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die zuständige Behörde stellte den Verlust seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt in Deutschland fest. Dagegen klagte der Grieche. Nach Ansicht des Vorlagegerichts, des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, ist fraglich, ob die Inhaftierung des Ausgangsklägers einem verstärkten Ausweisungsschutz entgegensteht. Es wollte daher vom EuGH wissen, ob die dauerhafte Niederlassung eines Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat und das Fehlen jeglicher Verbindung zum Herkunftsmitgliedstaat ausreichen, um das Erfordernis eines Aufenthalts in "den letzten zehn Jahren" im Aufnahmemitgliedstaat zu erfüllen.

EuGH: Kein verstärkter Ausweisungsschutz ohne Daueraufenthaltsrecht

Laut EuGH setzt der verstärkte Ausweisungsschutz zwingend ein Daueraufenthaltsrecht voraus. Der EuGH verweist auf die stufenweise Verstärkung des Ausweisungsschutzes, die an den Grad der Integration des betroffenen Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedstaat anknüpfe. Während ein Unionsbürger mit dem Recht auf Daueraufenthalt, das nach einem rechtmäßigen ununterbrochen Aufenthalt von fünf Jahren erworben werde, aus "schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit" ausgewiesen werden könne, könnten Unionsbürger, die einen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren vorweisen könnten, nur aus "zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit" ausgewiesen werden. Daher könne ein Unionsbürger ein gesteigertes, an einen zehnjährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat anknüpfendes Schutzniveau nur dann beanspruchen, wenn er über ein Daueraufenthaltsrecht verfügt.

Erfordernis der eigenen Bestreitung des Lebensunterhalts vor Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts untermauert Auslegung 

Der EuGH sieht diese Auslegung auch darin bestätigt, dass die Richtlinie hinsichtlich des Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat ein abgestuftes System vorgesehen habe. Danach sei das Recht auf Aufenthalt in einem Aufnahmemitgliedstaat für eine Dauer von mehr als drei Monaten an mehrere Voraussetzungen geknüpft, unter anderem daran, dass der Unionsbürger wirtschaftlich so gestellt sein muss, dass er die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nimmt. Habe er sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten, habe er das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten, und unterliege somit nicht mehr diesen Voraussetzungen. Daraus folge, dass ein Unionsbürger, der kein Recht auf Daueraufenthalt erworben habe, aus dem Aufnahmemitgliedstaat ausgewiesen werden könne, wenn er die Sozialhilfeleistungen unangemessen in Anspruch nimmt.

"Aufenthalt in den letzten zehn Jahren" erfordert umfassende Einzelfallbeurteilung

Anschließend wendet sich der EuGH der Frage zu, wie der Zeitraum der "letzten zehn Jahre" zu berechnen sei. Er stellt insoweit fest, dass der Aufenthalt von zehn Jahren zurückzurechnen sei und dass dieser Zeitraum grundsätzlich ununterbrochen gewesen sein müsse. Allerdings lasse sich der Richtlinie nichts dazu entnehmen, welche Umstände eine Unterbrechung der Aufenthaltsdauer von zehn Jahren bewirken könnten. Daher sei systematisch eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem sich die Frage der Ausweisung stelle, so der EuGH unter Verweis auf seine Rechtsprechung. Bei dieser umfassenden Beurteilung müssten die nationalen Behörden alle in jedem Einzelfall relevanten Umstände berücksichtigen und prüfen, ob die Zeiten der Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat bedeuten, dass sich der Mittelpunkt der persönlichen, familiären oder beruflichen Interessen in einen anderen Staat verlagert hat.

Haftzeiten stehen verstärktem Ausweisungsschutz nicht ohne weiteres entgegen

Eine solche umfassende Einzelfallbeurteilung sei auch vorzunehmen, um zu klären, ob Haftzeiten die zuvor geknüpften Integrationsbande zum Aufnahmemitgliedstaat haben abreißen lassen. Deshalb lasse die Inhaftierung des Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat nicht ohne Weiteres seine zu diesem Staat geknüpften Integrationsbande abreißen und bringe ihn daher auch nicht ohne Weiteres um den verstärkten Ausweisungsschutz. Bei der umfassenden Beurteilung der Situation des Betroffenen seien die Stärke der vor seiner Inhaftierung zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande sowie die Art der Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs zu berücksichtigen. Die Resozialisierung des Unionsbürgers in dem Staat, in den er vollständig integriert sei, liege nicht nur im Interesse dieses Staates, sondern auch im Interesse der Union, so der EuGH.

Grundsätzlich Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung maßgeblich

Schließlich legt der EuGH dar, dass es für die Frage, ob eine Person die Voraussetzung des "Aufenthalts in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat" erfülle, auf den Zeitpunkt ankomme, zu dem die ursprüngliche Ausweisungsverfügung ergehe. Verzögere sich der Vollzug einer einmal ergangenen Ausweisungsverfügung allerdings für eine gewisse Zeit, könne gegebenenfalls eine erneute Beurteilung notwendig werden, um zu überprüfen, ob von dem Betroffenen eine gegenwärtige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht.

EuGH, Urteil vom 17.04.2018 - C-316/16

Redaktion beck-aktuell, 17. April 2018.

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