Syrischem Wehrpflichtigen Flüchtlingseigenschaft verweigert
Ein syrischer Wehrpflichtiger, der aus seinem Land geflohen ist, um sich dem Militärdienst zu entziehen, und aus diesem Grund bei der Rückkehr nach Syrien Strafverfolgung oder Bestrafung ausgesetzt ist, klagt vor dem Verwaltungsgericht Hannover gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), mit dem ihm zwar subsidiärer Schutz gewährt, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft jedoch verweigert wird. Nach Ansicht des BAMF hat der Betroffene selbst keine Verfolgung erlitten, die ihn zur Ausreise gedrängt habe. Da er nur vor dem Bürgerkrieg geflohen sei, habe er keine Verfolgung zu befürchten, falls er nach Syrien zurückkehrt. Jedenfalls fehle es an einer Verknüpfung zwischen der Verfolgung, die er befürchte, und einem der fünf Verfolgungsgründe, die einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen könnten, nämlich Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.
VG Hannover hat Fragen zu Richtlinie über den internationalen Schutz
Das VG Hannover hat den EuGH um Auslegung der Richtlinie über den internationalen Schutz (RL 2011/95/EU) ersucht, nach der als Verfolgung unter anderem die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt gelten kann, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen wie zum Beispiel Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfassen würde, die die Anerkennung als Flüchtling ausschließen. Nach Ansicht des VG hätte der Betroffene als Einberufener solche Verbrechen im Rahmen des syrischen Bürgerkriegs begehen können (BeckRS 2019, 26491).
Teilnahme an Kriegsverbrechen als Wehrpflichtiger plausibel
Nach Auffassung des EuGH war es im Kontext des allgemeinen syrischen Bürgerkriegs, der zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag des Betroffenen herrschte, das heißt im April 2017, und insbesondere in Anbetracht der – nach Ansicht des VG ausführlich dokumentierten – wiederholten und systematischen Begehung von Kriegsverbrechen durch die syrische Armee einschließlich Einheiten, die aus Wehrpflichtigen bestehen, sehr plausibel, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzgebiet dazu veranlasst wird, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen teilzunehmen.
Verknüpfung zwischen Strafverfolgung und Verfolgungsgrund erforderlich
Allerdings müsse zwischen der Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes und zumindest einem der Verfolgungsgründe, die einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen können, eine Verknüpfung bestehen. Das Bestehen einer solchen Verknüpfung kann laut EuGH nicht als gegeben angesehen werden und folglich der Prüfung durch die mit der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz betrauten nationalen Behörden nicht entzogen sein. Die Verweigerung des Militärdienstes könne nämlich auch andere als diese fünf Verfolgungsgründe haben. Sie könne unter anderem durch die Furcht begründet sein, sich den Gefahren auszusetzen, die die Ableistung des Militärdienstes im Kontext eines bewaffneten Konflikts mit sich bringt.
Starke Vermutung für Verknüpfung
In vielen Fällen sei die Verweigerung des Militärdienstes allerdings Ausdruck politischer Überzeugungen, religiöser Überzeugungen oder habe ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Somit spreche eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den Bedingungen der dem Gerichtshof vorgelegten Rechtssache mit einem der fünf Gründe in Zusammenhang steht, die einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen. Nicht der Betroffene müsse diese Verknüpfung beweisen. Es sei vielmehr Sache der zuständigen nationalen Behörden, in Anbetracht sämtlicher in Rede stehender Umstände die Plausibilität dieser Verknüpfung zu prüfen.
Wehrdienstverweigerung als Akt politischer Opposition naheliegend
Im Übrigen bestehe in einem bewaffneten Konflikt, insbesondere einem Bürgerkrieg, und in Ermangelung einer legalen Möglichkeit, sich den militärischen Pflichten zu entziehen, die hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Verweigerung des Militärdienstes von den Behörden unabhängig von den persönlichen, eventuell viel komplexeren Gründen des Betroffenen als ein Akt politischer Opposition ausgelegt wird. Nach der Richtlinie sei es jedoch bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.