EuGH stärkt Sozialrechte ausländischer Leiharbeitnehmer
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Wenn eine Leiharbeitsfirma hauptsächlich Arbeitskräfte ins EU-Ausland vermittelt, kann sie nicht in Anwendung der Ausnahme in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 die Sozialversicherungsvorschriften ihres Sitzstaates anwenden. Das geht aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs hervor. Anderenfalls würden sich Unternehmen in dem Mitgliedstaat niederlassen, dessen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit für sie am günstigsten wären, so der EuGH.

Bulgare wird in Deutschland ansässigem Unternehmen überlassen

Hintergrund der Entscheidung ist ein Fall, in dem ein Bulgare über eine örtliche Leiharbeitsfirma an ein deutsches Unternehmen vermittelt wurde. Weil die Leiharbeitsfirma nach Ansicht der Stadt Varna jedoch keine "nennenswerte Tätigkeit" in Bulgarien ausübte, verweigerte sie einen Antrag, der bescheinigen sollte, dass die bulgarischen Sozialstandards angewendet werden könnten (sog. A1-Bescheinigung). Die Situation des Arbeitnehmers fiel laut Stadt nicht in den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/20041, wonach die bulgarischen Rechtsvorschriften anwendbar gewesen wären. Der von der Leiharbeitsfirma hiergegen eingelegte Widerspruch wurde zurückgewiesen. Anschließend klagte das Unternehmen.

VG: Wann ist ein Leiharbeitsunternehmen im Sitzstaat "gewöhnlich tätig"?

Das zuständige Verwaltungsgericht rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an und fragte nach den den maßgebenden Kriterien für die Beurteilung der Frage, ob ein Leiharbeitsunternehmen im Sinn von Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009/EG, durch  den Art.12 Abs.1  der  Verordnung Nr. 883/2004/EG präzisiert werde, gewöhnlich andere nennenswerte Tätigkeiten als reine interne Verwaltungstätigkeiten im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats seines Sitzes ausübt. Denn von der Erfüllung dieser Voraussetzung durch die Leiharbeitsfirma hänge die Anwendbarkeit der letztgenannten Bestimmung in der vorliegenden Rechtssache ab.

EuGH: Auswahl und Einstellung von Leiharbeitnehmern im Mitgliedstaat nicht ausreichend

Laut EuGH ist ein Leiharbeitsunternehmen dadurch gekennzeichnet, dass es eine Reihe von Tätigkeiten ausübe, die in der Auswahl, der Einstellung und der Überlassung von Leiharbeitnehmern an entleihende Unternehmen bestünden. Auswahl und Einstellung von Leiharbeitnehmern seien zwar nicht bloß "reine interne Verwaltungstätigkeiten" im Sinne der genannten Bestimmung, aber die Ausübung dieser Tätigkeiten in dem Mitgliedstaat, in dem ein solches Unternehmen ansässig sei, reiche nicht aus, um annehmen zu können, dass es dort "nennenswerte Tätigkeiten" ausübt. Denn einziger Zweck von Auswahl und Einstellung von Leiharbeitnehmern sei deren spätere Überlassung an entleihende Unternehmen. Die Tätigkeiten trügen dazu bei, den von einem Leiharbeitsunternehmen erzielten Umsatz zu generieren, da sie eine unerlässliche Voraussetzung für die spätere Überlassung solcher Arbeitskräfte sind. Tatsächlich werde der Umsatz aber nur durch die Überlassung dieser Arbeitnehmer an entleihende Unternehmen in Erfüllung der zu diesem Zweck mit diesen Unternehmen geschlossenen Verträge erwirtschaftet.

Regelung bei hauptsächlicher Überlassung ins Ausland nicht anwendbar

Der Fall, dass ein Arbeitnehmer, der zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werde, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats unterliege, stelle eine Ausnahme von der allgemeinen Regel dar, wonach eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübe, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliege. Folglich sei die Bestimmung, die einen solchen Fall regele, eng auszulegen. Unter diesem Blickwinkel könne diese Ausnahme nicht auf ein Leiharbeitsunternehmen angewandt werden, das im Mitgliedstaat seines Sitzes in keiner oder allenfalls in zu vernachlässigender Weise diese Arbeitnehmer an ebenfalls dort ansässige entleihende Unternehmen überlasse. Im Übrigen stützten die Definitionen der Begriffe "Leiharbeitsunternehmen" und "Leiharbeitnehmer" in der Richtlinie 2008/104/EG, da sie den Zweck der Tätigkeit eines Leiharbeitsunternehmens zum Ausdruck brächten, ebenfalls die Auslegung, dass bei einem solchen Unternehmen nur dann angenommen werden könne, dass es in dem Mitgliedstaat, in dem es ansässig sei, "nennenswerte Tätigkeiten" ausübt, wenn es dort in nennenswertem Umfang Tätigkeiten der Überlassung dieser Arbeitnehmer für im selben Mitgliedstaat tätige entleihende Unternehmen ausübt.

Anderenfalls Gefahr des "forum shoppings" und einer Wettbewerbsverzerrung

Die in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 enthaltene Ausnahme, die einen Vorteil für Unternehmen darstelle, die von der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs Gebrauch machten, könne nicht von Leiharbeitsunternehmen beansprucht werden, die ihre Tätigkeiten der Überlassung von Leiharbeitnehmern ausschließlich oder hauptsächlich auf einen oder mehrere andere Mitgliedstaaten als den ihres Sitzes ausrichteten. Die gegenteilige Lösung könnte für diese Leiharbeitsunternehmen einen Anreiz für ein "forum shopping" schaffen, also dazu führen, dass sie sich in dem Mitgliedstaat niederlassen, dessen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit für sie am günstigsten sind. Auf längere Sicht könnte eine solche Lösung zu einer Verringerung des von den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten gebotenen Schutzniveaus führen. Die Gewährung dieses Vorteils an solche Unternehmen erzeuge zudem zwischen den verschiedenen möglichen Beschäftigungsbedingungen eine Wettbewerbsverzerrung zugunsten des Einsatzes von Leiharbeit gegenüber Unternehmen, die ihre Arbeitnehmer direkt einstellten, die dann dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem sie arbeiteten, angeschlossen wären.

EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-784/19

Redaktion beck-aktuell, 4. Juni 2021 (ergänzt durch Material der dpa).