EuGH stärkt Rechte von Wanderarbeitern mit Schulkindern
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Ein früherer Wanderarbeiter und seine Kinder, denen ein Aufenthaltsrecht aufgrund des Schulbesuchs der Kinder zusteht, können nicht mit der Begründung, dass dieser Arbeitnehmer arbeitslos geworden ist, automatisch von nach dem nationalen Recht vorgesehenen Leistungen der sozialen Grundsicherung ausgeschlossen werden. Dies hat am 06.10.2020 die Große Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union entschieden.

Jobcenter lehnte Grundsicherung für arbeitslosen Wanderarbeiter mit Schulkindern ab

Der Kläger des Ausgangsverfahrens ist polnischer Staatsangehöriger und wohnt seit 2013 mit seinen beiden minderjährigen Töchtern in Deutschland, die dort auch zur Schule gehen. In den Jahren 2015 und 2016 übte der Kläger in Deutschland mehrere abhängige Beschäftigungen aus und wurde dann arbeitslos. Von September 2016 bis Juni 2017 bezog die Familie Grundsicherungsleistungen vom Jobcenter. Seit 2018 ist der Kläger wieder vollzeitbeschäftigt. Sein Antrag auf Weiterbewilligung der Jobcenter-Leistungen für den Zeitraum Juni bis Dezember 2017 wurde mit der Begründung abgelehnt, dass er in diesem Zeitraum den Arbeitnehmerstatus nicht behalten habe und sich zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte. Der Kläger erhob gegen diesen Bescheid eine Klage, der stattgegeben wurde. Das Jobcenter legte daraufhin Berufung beim Landessozialgericht ein. Dieses richtete ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH.

EuGH präzisiert Rechte von Wanderarbeitern mit unterhaltsberechtigten Kindern

Der Gerichtshof hat die Rechte, die einem früheren Wanderarbeitnehmer mit unterhaltsberechtigten Kindern, die im Aufnahmemitgliedstaat zur Schule gehen, zustehen, präzisiert. Hierzu hat er zunächst festgestellt, dass die fraglichen Leistungen der sozialen Sicherheit als "soziale Vergünstigungen" im Sinne der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 eingestuft werden können. Die Verordnung stehe einer nationalen Regelung entgegen, die es unter allen Umständen und automatisch ausschließe, dass ein früherer Wanderarbeitnehmer und seine Kinder derartige Leistungen erhalten, obwohl sie nach dieser Verordnung ein eigenständiges Aufenthaltsrecht aufgrund des Schulbesuchs der Kinder hätten.

Fortbestand des Aufenthaltsrechts über Verlust der Arbeitnehmereigenschaft hinaus

Zur Begründung dieses Ergebnisses hat der Gerichtshof zunächst darauf hingewiesen, dass das Aufenthaltsrecht, das Kindern eines Wanderarbeitnehmers oder früheren Wanderarbeitnehmers zuerkannt wird, um ihnen Zugang zum Unterricht zu gewährleisten, und aus dem das Aufenthaltsrecht des Elternteils abgeleitet ist, der die elterliche Sorge für sie wahrnimmt, ursprünglich aus der Arbeitnehmereigenschaft dieses Elternteils folgt. Sei dieses Recht einmal erworben, erwachse es zu einem eigenständigen Recht und könne über den Verlust der Arbeitnehmereigenschaft hinaus fortbestehen.

Schulbesuch der Kinder soll auch bei Jobverlust sichergestellt sein

Des Weiteren hat der EuGH entschieden, dass Personen, denen ein solches Aufenthaltsrecht zusteht, auch das in der Verordnung (EU) Nr. 492/20115 vorgesehene Recht auf Gleichbehandlung mit Inländern im Bereich der Gewährung sozialer Vergünstigungen genießen. Dies gelte auch dann, wenn sie sich nicht mehr auf die Arbeitnehmereigenschaft berufen könnten, aus der sie ihr ursprüngliches Aufenthaltsrecht hergeleitet haben. Diese Auslegung verhindere somit, dass eine Person, die beabsichtigt, gemeinsam mit ihrer Familie ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten, dem Risiko ausgesetzt ist, bei Verlust ihrer Beschäftigung den Schulbesuch ihrer Kinder unterbrechen und in ihr Herkunftsland zurückkehren zu müssen.

Ausnahmegründe für Leistungsversagung eng auszulegen

Der Aufnahmemitgliedstaat könne sich in einem Fall wie dem vorliegenden nicht auf die in der Richtlinie (EU) 2004/386 vorgesehene Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der Sozialhilfe berufen, so der EuGH weiter. Diese Ausnahme erlaube es, bestimmten Kategorien von Personen, unter anderen denjenigen, denen nach dieser Richtlinie ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche im Aufnahmemitgliedstaat zusteht, die Gewährung von Sozialhilfeleistungen zu versagen, um zu verhindern, dass diese Personen die Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen. Diese Ausnahme sei jedoch eng auszulegen und könne nur auf Personen Anwendung finden, deren Aufenthaltsrecht ausschließlich auf dieser Richtlinie beruhe.

EuGH bejaht Recht auf Gleichbehandlung mit Inländern

Vorliegend stehe den Betroffenen zwar ein Aufenthaltsrecht aufgrund dieser Richtlinie zu, weil sich der betreffende Elternteil auf Arbeitsuche befinde. Wegen des eigenständigen Aufenthaltsrechts nach der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 könne ihnen die Ausnahme jedoch nicht entgegengehalten werden. Daher begründe eine nationale Regelung, die sie von jeglichem Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit ausschließe, eine Ungleichbehandlung gegenüber Inländern. Der Gerichtshof hat zudem entschieden, dass einem Wanderarbeitnehmer oder früheren Wanderarbeitnehmer und dessen Kindern, die ein Aufenthaltsrecht aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 genießen und in einem Sozialversicherungssystem im Aufnahmemitgliedstaat eingebunden sind, auch das Recht auf Gleichbehandlung aus der Verordnung Nr. 883/20049 zusteht. Ihnen jeglichen Anspruch auf die fraglichen Leistungen der sozialen Sicherheit zu versagen, stelle daher eine Ungleichbehandlung gegenüber Inländern dar.

EuGH, Urteil vom 06.10.2020 - C-181/19

Redaktion beck-aktuell, 6. Oktober 2020.