EuGH stärkt Recht auf Rente für multinational tätige Anwälte

Eine nationale Regelung, die eine vorzeitige Altersrente davon abhängig macht, dass ein Rechtsanwalt seine Zulassungen im In- und Ausland zurückgeben muss, ist nicht mit Uni­ons­recht ver­ein­bar. Sie beeinträchtige den Juristen in seiner Niederlassungsfreiheit und seiner Freizügigkeit, entschied der Europäische Gerichtshof im Rah­men eines Vor­ab­ent­schei­dungs­er­su­chens. Die Forderung eines kompletten Verzichts gehe wohl über das gesetzgeberische Ziel hinaus.

Deutsch-polnischer Anwalt arbeitet in der Schweiz, Deutschland und Österreich

Ein Rechtsanwalt lag im Streit mit der Rechtsanwaltskammer Wien (Österreich), weil diese seinen Antrag auf vorzeitige Altersrente abgelehnt hatte. Der Mann mit polnischer und deutscher Staatsangehörigkeit hatte seinen Lebensmittelpunkt - privat wie beruflich - seit 2007 in der Schweiz. Er übte seinen Beruf aber noch in zwei weiteren Mitgliedstaaten aus, seit 1984 in Deutschland und seit 1996 in Österreich - wenn auch nur geringfügig. Seit Beginn seiner Tätigkeit zahlte er in das nordrhein-westfälische Versorgungssystem Beiträge ein. Ab 2018 bekam er in Deutschland eine vorzeitige Altersrente, während er dort weiterhin als Anwalt arbeitete. Auch in der Schweiz zahlte er ein. Im Oktober 2017 beantragte er bei der Rechtsanwaltskammer Wien erfolglos eine vorzeitige Altersrente. Er gab an, seine österreichische Zulassung zurückgegeben zu wollen, während er in Köln und in der Schweiz weiterhin als Anwalt arbeiten wolle. Eine vorzeitige Rente setze voraus, dass der Antragsteller auf seine Zulassungen "wo immer" verzichte, so der Ablehnungsbescheid.

Österreichisches Gericht legt EuGH Fragen vor

Das Verwaltungsgericht Wien setzte das Verfahren aus und wandte sich mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Dieser sollte unter anderem die Frage klären, ob österreichische Regelungen, die als Voraussetzung für eine Altersrente den Verzicht auf die Ausübung des Anwaltsberufs im In- und Ausland (§ 50 Abs. 2 Z 2 lit. c sublit. aa RAO) bzw. "wo immer" (§ 26 Abs. 1 Z 8 Teil A 2018 Verordnung des österreichischen Rechtsanwaltskammertags über die Versorgungseinrichtungen) forderten, mit Unionsrecht vereinbar seien. Der EuGH verneinte dies.

Totaler Berufsverzicht geht wohl über das gesetzgeberische Ziel hinaus

Den Luxemburger Richtern zufolge verstoßen die österreichischen Rechtsvorschriften gegen EU-Recht. Sie seien geeignet, Personen, die Anspruch auf eine solche Rente haben, davon abzuhalten, von ihrer Niederlassungsfreiheit oder ihrer Freizügigkeit Gebrauch zu machen. Außerdem könne ein Verzicht zwar für eine Person, die ihre gesamte Berufstätigkeit in Österreich ausgeübt habe, akzeptabel sein, sich aber für eine solche als schwieriger erweisen, die von ihren Rechten als EU-Bürger Gebrauch gemacht habe, und insbesondere gezwungen sei, ihre Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, weil sie dort noch nicht das gesetzliche Rentenalter erreicht habe. Zwar sei eine den Arbeitsmarkt regulierende nationale Rechtsvorschrift geeignet, einen gesunden Wettbewerb zwischen Berufsangehörigen zu gewährleisten. Es könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sie mit der Forderung eines kompletten Verzichts über das Ziel hinausgehe, so die Kritik. Unklar sei, inwiefern die Finanzierung von vorzeitigen Renten der Gefahr einer schweren Beeinträchtigung ausgesetzt sein soll, wenn deren Bezieher weiterhin in anderen Mitgliedstaaten tätig seien.

EuGH, Urteil vom 15.09.2022 - C‑58/21

Redaktion beck-aktuell, 16. September 2022.