EuGH stärkt Entgeltgleichheit für Frauen und Männer

Arbeitnehmer können sich in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten sowohl bei "gleicher" als auch bei "gleichwertiger Arbeit" unmittelbar auf den unionsrechtlich verankerten Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen berufen. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden. Bei den Entgeltbedingungen für Arbeitnehmer festgestellte Unterschiede müssten sich allerdings auf dieselbe Quelle zurückführen lassen.

Gleiches Entgelt für gleiche Arbeit gefordert

Tesco Stores ist ein Einzelhändler mit rund rund 250.000 Mitarbeitern, der seine Waren sowohl online als auch in Ladengeschäften im Vereinigten Königreich vertreibt. Das Unternehmen verfügt zudem über ein Vertriebsnetz mit rund 11.000 Arbeitnehmern. Rund 6.000 Arbeitnehmer oder ehemalige Arbeitnehmer von Tesco Stores klagten gegen Tesco Stores beim Watford Employment Tribunal (Arbeitsgericht Watford, Vereinigtes Königreich). Sie machten geltend, dass Männer und Frauen für die gleiche Arbeit nicht das gleiche Entgelt erhalten hätten. Dies verstoße gegen die nationalen Rechtsvorschriften und gegen Art. 157 AEUV. Die Verfahren zu den Klagen der männlichen Kläger der Ausgangsverfahren hat das vorlegende Gericht ausgesetzt, weil die Entscheidung über diese Klagen von der Entscheidung über die Klagen der Klägerinnen der Ausgangsverfahren abhänge.

Einzelhändler: Keine unmittelbare Wirkung in Fällen "gleichwertiger Arbeit"

Letztere machen geltend, dass ihre Arbeit und die der Männer, die in den Vertriebszentren des Vertriebsnetzes von Tesco Stores beschäftigt seien, gleichwertig seien und dass es, obwohl die Arbeit in unterschiedlichen Betrieben verrichtet werde, nach Art. 157 AEUV zulässig sei, ihre Arbeit mit der dieser Männer zu vergleichen. Nach Art. 157 AEUV ließen sich ihre Arbeitsbedingungen und die der in den Vertriebszentren beschäftigten Männer auf eine einheitliche Quelle zurückführen, nämlich Tesco Stores. Tesco Stores hält dem entgegen, dass Art. 157 AEUV bei Klagen, die auf eine gleichwertige Arbeit gestützt würden, keine unmittelbare Wirkung habe. Die Klägerinnen der Ausgangsverfahren könnten sich vor dem vorlegenden Gericht daher nicht auf Art. 157 AEUV berufen. Im Übrigen könne Tesco Stores nicht als "einheitliche Quelle" angesehen werden. Das Arbeitsgericht Watford rief den EuGH zur Auslegung des Art. 157 AEUV im Vorabentscheidungsverfahren an.

EuGH ist anderer Auffassung

Der EuGH hat entschieden, dass Art. 157 AEUV in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten, in denen ein Verstoß gegen den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei "gleichwertiger Arbeit" im Sinne der Vorschrift geltend gemacht wird, unmittelbare Wirkung entfaltet. Die Vorschrift erlege eindeutig und bestimmt eine Ergebnispflicht auf und habe zwingenden Charakter. Dies gelte sowohl in Bezug auf eine "gleiche“ als auch in Bezug auf eine "gleichwertige Arbeit". Sodann stellt der EuGH fest, dass Art. 157 AEUV nach ständiger Rechtsprechung unmittelbare Wirkung entfaltet, indem er für Einzelne Rechte begründe, die die nationalen Gerichte zu gewährleisten haben, unter anderem im Fall von Diskriminierungen, die ihren Ursprung unmittelbar in Rechtsvorschriften oder in Kollektivverträgen haben, sowie in dem Fall, dass die Arbeit in ein und demselben privaten oder öffentlichen Betrieb oder Dienst verrichtet wird.

Auch "gleichwertige Arbeit" erfasst

Der EuGH weist darauf hin, dass solche Diskriminierungen zu denen zählten, die sich schon an Hand der in Art. 119 EWG-Vertrag verwendeten Merkmale "gleiche Arbeit" und "gleiches Entgelt" allein feststellen ließen, und dass der Richter in diesen Fällen in der Lage sei, alle die Tatsachenfeststellungen zu treffen, die es ihm ermöglichten, zu beurteilen, ob eine Arbeitnehmerin ein geringeres Entgelt bezieht als ein Arbeitnehmer, der die gleiche oder eine gleichwertige Arbeit leistet. Somit ergebe sich aus einer ständigen Rechtsprechung, dass die unmittelbare Wirkung von Art. 157 AEUV entgegen dem Vorbringen von Tesco Stores nicht auf Fälle beschränkt ist, in denen die miteinander verglichenen Arbeitnehmer unterschiedlichen Geschlechts die "gleiche Arbeit" verrichten, sondern sich auch auf die Fälle erstreckt, in denen diese eine "gleichwertige Arbeit" verrichten.

Grundsatz der Entgeltgleichheit von grundlegender Bedeutung

In diesem Zusammenhang stellte der Gerichtshof klar, dass die Frage, ob die betreffenden Arbeitnehmer die "gleiche Arbeit" oder "gleichwertige Arbeit" im Sinne von Art. 157 AEUV verrichten, eine Frage der Tatsachenwürdigung durch das Gericht ist. Ferner wies der EuGH darauf hin, dass die vorstehende Auslegung durch das mit Art. 157 AEUV verfolgte Ziel, bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit in Bezug auf sämtliche Entgeltsbestandteile und -bedingungen jede Diskriminierung auf Grund des Geschlechts zu beseitigen, bestätigt werde. Er betonte, dass der in Art. 157 AEUV aufgestellte Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit zu den Grundlagen der Union gehört.

Einheitliche Quelle erforderlich, aber verschiedene Betriebe möglich

Die zwischen den Arbeitnehmern festgestellten Unterschiede müssten sich allerdings auf dieselbe Quelle zurückführen lassen. Sei dies der Fall, könnten die Arbeit und das Entgelt dieser Arbeitnehmer verglichen werden, selbst wenn diese ihre Arbeit in verschiedenen Betrieben verrichten. In einem Rechtsstreit, in dem es um eine gleichwertige Arbeit geht, die von Arbeitnehmern verschiedenen Geschlechts, die denselben Arbeitgeber haben, in verschiedenen Betrieben dieses Arbeitgebers verrichtet wird, kann Art. 157 AEUV daher vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden, sofern der Arbeitgeber eine solche einheitliche Quelle darstelle.

EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-624/19

Redaktion beck-aktuell, 4. Juni 2021.