Schweigerecht in Insider-Verfahren bei Gefahr strafrechtlicher Sanktionen

Eine natürliche Person, gegen die die Behörden wegen Insidergeschäften ermitteln, hat das Recht zu schweigen, wenn sich aus ihren Antworten ihre Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur bewehrte Zuwiderhandlung oder ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit ergeben könnte. Dies hat der Europäische Gerichtshof am 02.02.2021 entschieden, aber auch Grenzen des Schweigerechts festgelegt.

Italienische Aufsicht sanktionierte Insidergeschäfte und mangelnde Zusammenarbeit

Die italienische Unternehmens- und Börsenaufsicht (Consob) sanktionierte Insidergeschäfte des Betroffenen als Ordnungswidrigkeit mit Geldbußen von insgesamt 300.000 Euro. Da er eine Anhörung mehrmals verschob und sich dann bei Erscheinen weigerte, Fragen zu beantworten, belegte ihn die Aufsicht wegen mangelnder Zusammenarbeit mit einer weiteren Geldbuße von 50.000 Euro. Der Einspruch des Betroffenen wurde zurückgewiesen. Dagegen legte er Kassationsbeschwerde ein. Der Kassationsgerichtshof rief den Verfassungsgerichtshof an.

Verfassungsgerichtshof rief EuGH an

Er fragte ihn nach der Verfassungsmäßigkeit der eine mangelnde Zusammenarbeit sanktionierenden Bußgeldvorschrift. Nach dieser Vorschrift wird die Weigerung, fristgemäß den Anfragen der Consob zu entsprechen, oder die Verzögerung der Ausübung ihrer Aufsichtsfunktionen mit Sanktionen geahndet. Dies gilt auch in Bezug auf die Person, der die Consob ein Insidergeschäft zur Last legt. Der Verfassungsgerichtshof betonte, dass nach italienischem Recht die Insidergeschäfte sowohl eine Ordnungswidrigkeit als auch eine Straftat darstellten. Er fügte hinzu, die betreffende Vorschrift sei in Durchführung einer spezifischen Verpflichtung aus der Richtlinie 2003/6/EG erlassen worden. Nunmehr werde mit ihr eine Bestimmung der Verordnung 596/2014/EU umgesetzt. Er rief daher den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an und bat um Klärung der Vereinbarkeit dieser Rechtsakte mit der EU-Grundrechtecharta und insbesondere mit dem Recht zu schweigen.

EuGH: Schweigerecht bei Gefahr strafrechtlicher Sanktionen

Der EuGH stellt fest, dass eine natürliche Person ein durch die Charta geschütztes Recht hat zu schweigen. Im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Recht auf ein faires Verfahren stehe das Recht zu schweigen unter anderem der Verhängung einer Sanktion gegen eine "angeklagte" natürliche Person wegen deren Weigerung entgegen, der zuständigen Behörde gemäß der Richtlinie 2003/6/EG oder der Verordnung 596/2014/EU Antworten zu geben, aus denen sich ihre Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur bewehrte Zuwiderhandlung oder ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit ergeben könnte. Die EuGH-Rechtsprechung zur Pflicht von Unternehmen, im Rahmen von Kartellverfahren Informationen zu liefern, die später zum Nachweis ihrer Haftung für ein wettbewerbswidriges Verhalten herangezogen werden könnten, könne nicht entsprechend angewandt werden, um die Tragweite des Rechts zu schweigen einer natürlichen Person zu bestimmen, der Insidergeschäfte zur Last gelegt werden.

Schweigerecht rechtfertigt aber nicht jede Verweigerung der Zusammenarbeit

Laut EuGH kann das Recht zu schweigen allerdings nicht jede Verweigerung der Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden durch den Betroffenen rechtfertigen. Dies gelte etwa für die Weigerung, zu einer von ihnen anberaumten Anhörung zu erscheinen, oder für eine Hinhaltetaktik, um die Durchführung der Anhörung zu verzögern.

Mit Schweigerecht vereinbare Auslegung der EU-Rechtsakte möglich

Sowohl die Richtlinie 2003/6/EG als auch die Verordnung 596/2014/EU seien einer Auslegung zugänglich, die mit dem Schweigerecht vereinbar sei. Sie könnten so ausgelegt werden, dass keine Verpflichtung besteht, einer natürlichen Person in der gegebenen Situation Sanktionen aufzuerlegen. Unter diesen Umständen könne es die Gültigkeit dieser Rechtsakte nicht berühren, dass sie die Verhängung einer Sanktion wegen einer derartigen Weigerung nicht ausdrücklich ausschließen. Es obliege den Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass gegen eine natürliche Person wegen ihrer Weigerung, der zuständigen Behörde solche Antworten zu geben, keine Sanktionen verhängt werden können.

EuGH, Urteil vom 02.02.2021 - C-481/19

Redaktion beck-aktuell, 2. Februar 2021.