1. Sachverhaltskomplex : Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen
In den Rechtssachen C-524/15 und C-537/16 wurden Verwaltungssanktionen wegen unterlassener Abführung von Mehrwertsteuer beziehungsweise wegen Marktmanipulationen verhängt. Im ersten Fall wurde der Betroffene wegen derselben Tat anschließend strafrechtlich verfolgt. Im zweiten Fall machte der Betroffene geltend, er sei bereits wegen derselben Tat rechtskräftig zu einer strafrechtlichen Sanktion verurteilt worden, die im Wege der Begnadigung erlassen worden sei.
Vorlagegerichte: Verstoß gegen ne bis in idem-Grundsatz?
Die italienischen Vorlagegerichte, das Gericht von Bergamo und der Oberste Kassationshof, baten den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren um Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem im Rahmen der Mehrwertsteuerrichtlinie 2006/112/EG und der Finanzmarktrichtlinie 2003/6/EG. Sie wollten insbesondere wissen, ob die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen mit diesem sowohl in Art. 50 der EU-Grundrechtecharta als auch in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK verankerten Grundsatz vereinbar ist, nach dem niemand wegen derselben Straftat zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft werden darf.
EuGH: Rechtfertigungsbedürftige Einschränkung des ne bis in idem-Grundsatzes
Der EuGH legt zunächst dar, dass eine solche Kumulierung strafrechtlicher Verfolgungsmaßnahmen oder Sanktionen mit verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen oder Sanktionen strafrechtlicher Natur eine Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem darstelle, die einer den unionsrechtlichen Anforderungen genügenden Rechtfertigung bedürfe. Eine nationale Regelung, die eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur zulasse, müsse danach vier Voraussetzungen erfüllen: Sie müsse erstens eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung haben, die eine solche Kumulierung rechtfertigen könne, wobei mit den Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden müssten. Sie müsse zweitens klare und präzise Regeln aufstellen, die es den Bürgern ermöglichten, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung in Frage komme. Sie müsse drittens sicherstellen, dass die Verfahren untereinander koordiniert werden, damit die mit einer Kumulierung von Verfahren verbundene zusätzliche Belastung für die Betroffenen auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird. Schließlich müsse sie viertens gewährleisten, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der betreffenden Straftat zwingend Erforderliche beschränkt wird. Ob diese Anforderungen in den vorliegenden Fällen erfüllt seien und die konkrete Belastung für die Betroffenen verhältnismäßig sei, hätten die nationalen Gerichte zu prüfen.
Gewährleistung der vollen Mehrwertsteuererhebung kann auf Verwaltungssanktion folgende Strafverfolgung rechtfertigen
Laut EuGH gewährleisten die Anforderungen, denen eine etwaige Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur nach dem Unionsrecht genügen muss, ein Schutzniveau für den Grundsatz ne bis in idem, mit dem das durch die EMRK garantierte Schutzniveau nicht verletzt wird. Aufgrund dieser Erwägungen stellt der EuGH in der Sache C‑524/15 fest, dass das Ziel, die Erhebung der gesamten im jeweiligen Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten, eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur rechtfertigen könne. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht biete die nationale Regelung, die eine strafrechtliche Verfolgung auch noch nach Verhängung einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur zulasse, insbesondere die Gewähr dafür, dass die nach ihr zulässige Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht über das hinausgehe, was zur Erreichung des Ziels zwingend erforderlich sei.
Italienische Regelung zur Ahndung von Marktmanipulationen wohl unverhältnismäßig
In der Sache C‑537/16 stellt der EuGH fest, dass das Ziel, die Integrität der EU-Finanzmärkte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Finanzinstrumente zu schützen, eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur rechtfertigen könne. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheine jedoch die italienische Regelung zur Ahndung von Marktmanipulationen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu wahren. Denn nach dieser nationalen Regelung sei es zulässig, ein Verwaltungsverfahren strafrechtlicher Natur wegen derselben Tat durchzuführen, die bereits Gegenstand einer strafrechtlichen Verurteilung gewesen sei. Dabei scheine die strafrechtliche Sanktion selbst schon geeignet zu sein, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden. Folglich ginge die Fortsetzung eines Verwaltungsverfahrens strafrechtlicher Natur wegen derselben Tat, die bereits Gegenstand einer solchen strafrechtlichen Verurteilung gewesen sei, über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels des Schutzes der Märkte zwingend erforderlich sei. Diese Regelung scheine ferner keine Gewähr dafür zu bieten, dass die Gesamtheit aller Sanktionen in einem angemessen Verhältnis zur Schwere der Straftat steht.
2. Sachverhaltskomplex: Verbot der Fortsetzung eines Bußgeldverfahrens nach rechtskräftigem freisprechenden Strafurteil mit EU-Recht vereinbar?
Die Consob verhängte gegen die Betroffenen des Ausgangsverfahrens 2012 Verwaltungssanktionen wegen Insider-Geschäften. Im Rahmen der beim Obersten Kassationsgerichtshof erhobenen Klagen machten diese geltend, das Strafgericht habe in dem Strafverfahren wegen derselben Tat, das parallel zum Verwaltungsverfahren eingeleitet worden sei, festgestellt, dass die Insider-Geschäfte nicht erwiesen seien. Die Rechtskraft dieses endgültigen freisprechenden Strafurteils verbiete nach dem nationalen Prozessrecht die Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens wegen derselben Tat. In diesem Zusammenhang wollte das Vorlagegericht wissen, ob die Finanzmarktrichtlinie in Verbindung mit dem Grundsatz ne bis in idem einer solchen nationalen Regelung entgegensteht. Die Richtlinie verpflichte die Mitgliedstaaten, für Verstöße gegen das Verbot von Insider-Geschäften wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Verwaltungssanktionen vorzusehen.
EuGH: Kein Verstoß gegen EU-Recht
Der EuGH hat entschieden, dass eine solche nationale Regelung im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtskraft, dem sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen eine große Bedeutung zukomme, nicht gegen Unionsrecht verstößt. Gebe es ein rechtskräftiges freisprechendes Strafurteil, in dem festgestellt werde, dass keine Straftat vorliegt, wäre zudem die Fortsetzung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur nicht mit dem Grundsatz ne bis in idem vereinbar. Denn in einer solchen Situation ginge die Fortsetzung dieses Verfahrens offensichtlich über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, die Integrität der EU-Finanzmärkte das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Finanzinstrumente zu schützen, erforderlich sei.