Streit um russisches Gas: Deutschland droht Niederlage vor EuGH

Im Streit um eine Ausweitung russischer Erdgaslieferungen droht Deutschland eine Niederlage vor dem Europäischen Gerichtshof. In seinen am Donnerstag veröffentlichten Schlussanträgen empfiehlt Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona, Rechtsmittel Deutschlands gegen einen EuGH-Beschluss zurückzuweisen. Die Opal-Gasfernleitung könnte damit weiterhin nicht voll genutzt werden. Von einem Urteil kann auch die umstrittene Ostseepipeline Nord Stream 2 betroffen sein.

Streit um Lieferanteile für Gazprom

Konkret geht es um Lieferungen durch die Pipeline Opal, die eine Verlängerung der seit 2011 betriebenen ersten Nord Stream-Pipeline in der Ostsee ist und über die russisches Gas nach Europa transportiert wird. Opal leitet das Gas durch Ostdeutschland weiter nach Tschechien. Der russische Gazprom-Konzern hatte ursprünglich nur die halbe Leitungskapazität nutzen dürfen, um andere Lieferanten nicht zu benachteiligen. Mit einem Beschluss von 2016 erlaubte die EU-Kommission Gazprom dann auf Antrag der deutschen Bundesnetzagentur eine deutliche Erhöhung der Lieferungen. Im September 2019 hatte Polen in erster Instanz den Beschluss der EU-Kommission stoppen lassen. Polen hatte mit der Begründung geklagt, dass die Lieferung von Gas über zwei konkurrierende Pipelines durch Osteuropa gedrosselt werden könnte, wenn mehr Gas via Nord Stream nach Mitteleuropa komme. Dies bedrohe die Versorgungssicherheit in Polen und widerspreche dem in der EU geltenden Grundsatz der Solidarität im Energiesektor.

Deutschland: Grundsatz der Energiesolidarität lediglich politischer Begriff

Deutschland mache "im Wesentlichen geltend, dass die Energiesolidarität lediglich ein politischer Begriff und kein rechtliches Kriterium" sei, heißt es in den Schlussanträgen. Entsprechend könnten daraus keine unmittelbaren Rechte und Pflichten abgeleitet werden. Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona teilt diese Ansicht jedoch nicht und stellt sich auf die Seite Polens. Er stellte fest, dass das Gericht zutreffend zu dem Ergebnis gelangt sei, dass der Grundsatz der Energiesolidarität "Rechte und Pflichten sowohl für die Union als auch für die Mitgliedstaaten" beinhalte. Der in Art. 194 AEUV verankerte Grundsatz der Energiesolidarität entfalte Rechtswirkungen und nicht nur rein politische Wirkungen für die Auslegung der Vorschriften des Sekundärrechts, die die Union in Ausübung ihrer Befugnisse im Bereich der Energie erlassen habe, sowie zur Füllung von Regelungslücken bei diesen Vorschriften und für deren gerichtliche Überprüfung. 

Generalanwalt bejaht Rechtswirkungen

Der Grundsatz der Energiesolidarität verlange, so der Generalanwalt in Übereinstimmung mit dem EuG, dass die Kommission, die ihn hier umsetzen müsse, die betroffenen Interessen, sowohl die der Mitgliedstaaten als auch die der Union insgesamt, im Einzelfall abwäge. Würden bei dieser Abwägung einer oder mehrere Mitgliedstaaten offensichtlich vergessen, entspreche die Entscheidung der Kommission nicht den Anforderungen dieses Grundsatzes. Entgegen der von Deutschland vertretenen Auffassung ist der Generalanwalt der Ansicht, dass der Grundsatz der Energiesolidarität über die im AEU-Vertrag vorgesehenen Versorgungskrisensituationen hinaus Rechtswirkungen entfalten könne. 

Urteil kann auch Nord Stream 2 betreffen

Der polnische Gaskonzern PGNiG sieht sich bestätigt. Die Sache sei nicht nur im Kontext dieser konkreten Gaspipeline von Bedeutung, sagte Sprecher Pawel Majewski. "Wenn es unmöglich gemacht wird, die gesamte Kapazität der Opal-Pipeline zu monopolisieren, dann ist das nicht nur für Polen eine gute Nachricht, sondern auch für die Energiesicherheit der gesamten EU und das richtige Funktionieren ihres Gasmarktes." Wenn die EuGH-Richter den Schlussanträgen folgen, kann das bevorstehende Urteil auch Auswirkungen auf die umstrittene Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 haben. Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona schreibt, dass es für Gazprom und verbündete Unternehmen schwieriger werden könne, "in den Genuss einer vorübergehenden Ausnahme von der Anwendung der Unionsbestimmungen [...] auf die Gasfernleitung Nord Stream 2 [...] zu kommen". Diese Unionsbestimmungen schreiben einen freien und fairen Wettbewerb der Gasflüsse vor. Hoffnungen Gazproms auf Vorteile auf dem Energiemarkt nach der Fertigstellung von Nord Stream 2 dürften entsprechend einen Dämpfer bekommen.

Nord Stream 2 schon länger in der Kritik

Der Bau der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 wird von Teilen Europas und der USA kritisiert. Die Rohr-Verlegearbeiten stehen schon länger kurz vor dem Abschluss. Es gab jedoch immer wieder Widerstand aus anderen Ländern. So hatten etwa Sanktionsandrohungen aus Washington mehrere europäische Unternehmen dazu bewegt, ihre Teilnahme an dem Projekt zu beenden oder ihren Rückzug zuzusichern.

EuGH, Schlussanträge vom 18.03.2021 - C-848/19

Redaktion beck-aktuell, 19. März 2021 (dpa).