Das sogenannte "EU-Schleuserpaket" von 2002 besteht aus der Richtlinie 2002/90/EG und dem Rahmenbeschlusses 2002/946/JI. Es sieht vor, dass die Beihilfe zur unerlaubten Einreise unabhängig vom Vorliegen einer Gewinnerzielungsabsicht strafbar ist. Deutschland hat die Vorgaben in § 96 Abs. 1 AufenthG umgesetzt. Grundsätzlich erfasst der Straftatbestand dabei alle Handlungen, mit denen eine Person in überlegter und bewusster Weise Hilfe beim illegalen Überschreiten der Grenze eines Mitgliedstaats leistet, unabhängig von den Beweggründen dieser Person. Zur Frage, was gilt, wenn die Beihilfe aus humanitären Gründen – also ohne Gewinnerzielungsabsicht – erfolgt ist, hat Generalanwalt Richard de la Tour am Donnerstag seine Schlussanträge vorgelegt (C-460/23 „Kinsa“).
In dem zugrundeliegenden Fall ging es um eine kongolesische Staatsangehörige, die gemeinsam mit zwei minderjährigen Mädchen per Flugzeug in Italien eingereist war, um dort Asyl zu beantragen. Bei der Einreise legte sie falsche Ausweise für sich, ihre Tochter und ihre Nichte vor und wurde daraufhin wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise angeklagt. Sie machte geltend, sie sei vor ihrem ehemaligen Lebensgefährten geflohen, von dem sie Morddrohungen erhalten habe. Die Mädchen habe sie aus Sorge um deren körperliche Unversehrtheit mitgenommen. Hinter der Beihilfehandlung steckte also keine Gewinnerzielungsabsicht – die Frau hatte viel mehr altruistisch gehandelt.
Vorlagefrage betraf die Richtlinie selbst
Die Vorlagefrage eines Gerichts in Bologna, das über die Strafbarkeit der Kongolesin entscheiden musste, betraf nun nicht nur das italienische Recht, sondern auch die Richtlinie 2002/90/EG an sich. Das Gericht hatte insbesondere Zweifel daran, ob die Unionsregelung mit der Charta der Grundrechte der europäischen Union im Einklang steht.
Dass der Unionsgesetzgeber die Beihilfe zur unerlaubten Einreise unter Strafe stelle, ohne dabei von den Mitgliedstaaten eine Sonderregelung zu verlangen, wenn die Beihilfe ohne Gewinnerzielungsabsicht erfolgt, hielt das Gericht für unverhältnismäßig. Es fragte beim EuGH nach, ob es die italienische Regelung, die das Unionsrecht umsetzt, anzuwenden habe.
Generalanwalt: Beweggründe müssen in die Verhältnismäßigkeitsabwägung einfließen
Grundsätzlich hat der Generalstaatsanwalt die Richtlinie in seinen Schlussanträgen für rechtsgültig gehalten. So lägen etwa keine Anhaltspunkte vor, dass die Richtlinie den in Art. 49 Abs. 1 GRCh verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen beeinträchtigen könnte. Die erforderliche Konkretheit, Bestimmtheit und Klarheit müssten die Mitgliedstaaten in ihren jeweiligen Umsetzungsgesetzen sicherstellen.
Der in der Richtlinie verbriefte Beihilfe-Tatbestand verstoße auch nicht gegen den in Art. 49 Abs. 3 GRCh verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Allerdings müssten die Beweggründe für die Beihilfe durchaus in die Abwägung der Gerichte einfließen. Auch hier sei es aber Sache des nationalen Gerichts, "die Beweggründe des Handelnden zu bestimmen und zu beurteilen, inwieweit seine Handlung durch den Schutz eines höheren Interesses geboten ist."
Müssen Mitgliedstaaten für humanitäre Gründe eine Sonderregelung schaffen?
"Es geht letztlich um die Frage, ob es europarechtswidrig ist, wenn ein Staat davon absieht, die Beihilfe zur unerlaubten Einreise aus humanitären Gründen straffrei zu stellen", erklärt Prof. Dr. Constantin Hruschka, Professor für Sozialrecht an der evangelischen Hochschule Freiburg.
Das sei umstritten. "Nach der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten zwingend strafrechtliche Sanktionen für die Beihilfe zur irregulären Einreise vorsehen. Sie können aber auch regeln, dass keine Sanktionen verhängt werden, wenn die Person aus humanitären Gründen gehandelt hat." Ob es dazu allerdings eine Verpflichtung gebe, sei Gegenstand des aktuellen Falls.
Dabei habe der Generalanwalt sich um eine präzise Antwort gedrückt. "Der Generalanwalt sagt zwar: Ob die Beihilfe aus humanitären Gründen erfolgt ist, muss bei der Strafzumessung berücksichtigt werden", so Hruschka. "Er sagt aber gerade nicht: Es gibt eine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, einen Strafausschließungsgrund gesetzlich vorzusehen. Und da hoffe ich, dass der EuGH in seiner Entscheidung noch einen Schritt weitergeht."
Generalanwalt beruft sich auf fehlende Informationen
Ganz abschließend konnte der Generalanwalt die Frage aus Bologna auch deshalb nicht beantworten, weil es unterschiedliche Darstellungen der Rechtslage im Land gebe. "Das Gericht aus Bologna war der Auffassung, die italienische Regelung verstoße jedenfalls gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, weil sie keinen eigenen Strafausschließungsgrund für die Beihilfe aus humanitären Gründen enthält", erklärt Hruschka. "Die italienische Regierung hat in dem Verfahren aber vorgebracht, sie hätte eine gesonderte Regelung getroffen, wonach die Strafbarkeit entfallen kann."
Das wird nun der EuGH klären müssen. Der Generalanwalt lasse es hier offen: "Ob der Mitgliedstaat einen Strafausschließungsgrund vorsehe, oder lediglich die Verhältnismäßigkeit auf Ebene der Strafzumessung berücksichtigt, schreibe das Unionsrecht laut Generalanwalt nicht vor", so Hruschka.
Italien habe allerdings eine besonders strenge Regelung. "Der Strafrahmen, den sie vorsieht, ist der, den das Unionsrecht für vorsätzliche Taten mit Gewinnerzielungsabsicht festgelegt hat. Darauf weist auch der Generalanwalt hin." Eine solche Regelung sei zumindest dann nicht verhältnismäßig, wenn das Gericht von diesem Strafrahmen im Fall einer Beihilfe aus humanitären Gründen nicht abweichen kann.
Beihilfe aus humanitären Gründen auch in Deutschland umstritten
Auch in Deutschland gab es eine große Diskussion um die Beihilfe aus humanitären Gründen. Hier richtet sich die Strafbarkeit nach § 96 Abs. 1 AufenthG. "Eine klare Ausnahme für humanitär handelnde Personen gibt es auch hier nicht", sagt Hruschka. Allerdings gibt es in den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum AufenthG für beruflich in dem Feld tätige Personen – z.B. Ärzte, Hebammen oder Seelsorger – eine Klarstellung: Sie leisten regelmäßig keine Beteiligung im Rahmen ihrer berufs-/ehrenamtsspezifischen Pflichten. Auf EU-Ebene werde derweil bereits über eine neue Schleuser-Regelung diskutiert, die das Schleuserpaket von 2002 ablösen oder ergänzen könnte.
Eines findet Hruschka an den Schlussanträgen allerdings bemerkenswert. Der Generalanwalt treffe nämlich auch eine Aussage darüber, unter welchen Voraussetzungen eine Strafbarkeit wegen Beihilfe überhaupt in Frage kommt: "Der Generalanwalt betont, dass eine Strafbarkeit der Beihilfehandlung nur bei direktem Vorsatz und nicht (auch) bei Eventualvorsatz in Frage kommt. Sollte der EuGH dieser Interpretation folgen, würde dies für die deutsche Rechtspraxis eine wichtige Änderung darstellen."