Schadensersatzklage in Italien nach Untergang panamaischer Fähre möglich

Die Opfer der 2006 untergegangenen Fähre "Al Salam Boccaccio '98", die unter panamaischer Flagge fuhr, können die italienischen Gesellschaften, die das Schiff klassifiziert und zertifiziert hatten, vor den italienischen Gerichten auf Schadensersatz verklagen. Voraussetzung ist, dass die Gesellschaften nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse gehandelt haben. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 07.05.2020 entschieden.

EuGH entscheidet nicht über hoheitliche Befugnisse

Der EuGH sieht bei der Klassifizierung und Zertifizierung keine Ausübung hoheitlicher Befugnisse, dies zu prüfen sei aber Sache des vorlegenden Gerichts. Seien keine hoheitlichen Befugnisse wahrgenommen worden, könnten sich die Gesellschaften auch nicht auf die Staatenimmunität berufen.

Schadensersatzklagen gegen Klassifikations- und Zertifizierungsgesellschaften bei italienischen Gerichten

Im Jahr 2006 ging das unter der Flagge der Republik Panama fahrende Schiff Al Salam Boccaccio '98 im Roten Meer unter. Dabei starben mehr als 1.000 Menschen. Überlebende und Familienangehörige von Opfern klagten bei italienischen Gerichten gegen zwei in Genua ansässige Gesellschaften, die das Schiff klassifiziert und zertifiziert hatten. Die Kläger machten geltend, der Untergang sei auf die Klassifikations- und Zertifizierungsmaßnahmen zurückzuführen.

Gesellschaften berufen sich auf Staatenimmunität

Die Gesellschaften hielten das angerufene Gericht unter Berufung auf den Grundsatz der Staatenimmunität für unzuständig, da sie im Auftrag der Republik Panama gehandelt hätten und die Maßnahmen daher Ausdruck der hoheitlichen Befugnisse des beauftragenden Staates seien. Das italienische Gericht, das Zweifel an der Zuständigkeit der italienischen Gerichte hegte, rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an.

EuGH: Brüssel-I-Verordnung anwendbar, sofern keine hoheitlichen Befugnisse ausgeübt wurden

Der EuGH hat entschieden, dass eine Schadensersatzklage, die gegen juristische Personen des Privatrechts erhoben wird, die für Rechnung und im Auftrag eines Drittstaats eine Schiffsklassifikations- und -zertifizierungstätigkeit ausüben, unter den Begriff "Zivil- und Handelssachen" im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Brüssel-I-Verordnung fällt, soweit diese Tätigkeit nicht aufgrund hoheitlicher Befugnisse im Sinne des Unionsrechts ausgeübt wird. Allein der Umstand, dass die fraglichen Maßnahmen für Rechnung und im Interesse der Republik Panama durchgeführt worden seien, bedeute nicht, dass sie in Ausübung hoheitlicher Befugnisse (iure imperii) gehandelt habe. Denn das Handeln für den Staat stelle nicht immer eine Ausübung hoheitlicher Befugnisse dar. Auch reiche der Umstand, dass bestimmte Tätigkeiten einem öffentlichen Zweck dienen, für sich genommen nicht aus, um diese Tätigkeiten als iure imperii einzustufen. Für die Feststellung, ob die im Ausgangsverfahren in Rede  stehenden Handlungen in Ausübung hoheitlicher Befugnisse vorgenommen worden seien, sei maßgebliches Kriterium die Berufung auf Befugnisse, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden Regeln abwichen.

Bloße Überprüfung und Zeugniserteilung keine Ausübung hoheitlicher Befugnisse

Dazu hält der EuGH fest, dass die von den Gesellschaften vorgenommenen Klassifikations- und Zertifizierungsmaßnahmen nur darin bestanden hätten, festzustellen, ob das untersuchte Schiff die Anforderungen der anwendbaren Rechtsvorschriften erfülle, und, wenn ja, die entsprechenden Zeugnisse auszustellen. Die Auslegung und die Wahl der anwendbaren technischen Anforderungen seien den Behörden der Republik Panama vorbehalten. Zwar könne die Überprüfung des Schiffes durch eine Klassifikations- und Zertifizierungsgesellschaft gegebenenfalls zum Entzug des Zeugnisses führen, weil das Schiff diesen Anforderungen nicht entspricht. Ein solcher Entzug ergebe sich jedoch nicht aus der Entscheidungsbefugnis dieser Gesellschaften, die in einem zuvor festgelegten rechtlichen Rahmen tätig würden. Wenn ein Schiff nach dem Entzug eines Zeugnisses nicht mehr zur See fahren könne, dann wegen der Sanktion, die gesetzlich vorgeschrieben sei. Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen könnten die von den Gesellschaften durchgeführten Maßnahmen daher nicht als in Ausübung hoheitlicher Befugnisse im Sinne des Unionsrechts durchgeführt angesehen werden.

Berufung auf Staatenimmunität nur bei Ausübung hoheitlicher Befugnisse möglich

Auf die Staatenimmunität könnten sich die Gesellschaften nur dann berufen, wenn ihre Tätigkeiten Ausdruck hoheitlicher Befugnisse des panamaischen Staates gewesen wären, so der EuGH weiter. Er habe bereits entschieden, dass die Staatenimmunität beim gegenwärtigen Stand der internationalen Praxis nicht absolut gilt, sondern dann allgemein anerkannt werde, wenn der Rechtsstreit iure imperii vorgenommene Handlungen betrifft. Sie könne hingegen ausgeschlossen sein, wenn sich der gerichtliche Rechtsbehelf auf Handlungen beziehe, die nicht unter die hoheitlichen Befugnisse fielen. Die Immunität privatrechtlicher Einrichtungen wie der Gesellschaften hier werde in Bezug auf die Schiffsklassifikations- und -zertifizierungsmaßnahmen nicht allgemein anerkannt, wenn diese nicht iure imperii im Sinne des Völkerrechts durchgeführt worden seien. Daher stehe der völkergewohnheitsrechtliche Grundsatz der Staatenimmunität der gerichtlichen Zuständigkeit der italienischen Gerichte nicht entgegen, wenn das angerufene Gericht feststelle, dass die in Rede stehenden Klassifikations- und Zertifizierungseinrichtungen keine hoheitlichen Befugnisse im Sinne des Völkerrechts wahrgenommen haben.

EuGH, Urteil vom 07.05.2020 - C-641/18

Redaktion beck-aktuell, 7. Mai 2020.