Streit um Entscheidungen des rumänischen VerfGH
Die rumänische Justizreform im Bereich der Korruptionsbekämpfung wird seit 2007 auf der Ebene der EU gemäß dem Verfahren für Zusammenarbeit und Überprüfung (VZÜ), das durch die Entscheidung 2006/928 anlässlich des Beitritts Rumäniens zur Union eingeführt worden ist, überwacht. Im Rahmen dieser Rechtssachen stellt sich die Frage, ob die Anwendung der Rechtsprechung aus verschiedenen Entscheidungen des rumänischen VerfGH betreffend die im Bereich Betrug und Korruption geltenden Strafverfahrensvorschriften möglicherweise gegen das Unionsrecht verstößt. Konkret geht es darum, dass rumänische Gerichte mehrere Personen, darunter ehemalige Parlamentarier und Minister, wegen Straftaten des Mehrwertsteuerbetrugs sowie der Korruption und der Einflussnahme, insbesondere im Zusammenhang mit der Verwaltung von Unionsmitteln, verurteilt und der rumänische VerfGH diese Entscheidungen für nichtig erklärt hatte.
Systemische Gefahr der Straflosigkeit bei Bekämpfung von Betrug und Korruption?
Die Gerichte ersuchten den EuGH um Klärung, ob diese Entscheidungen des VerfGH mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Es stelle sich zum einen die Frage, ob die hinsichtlich des VZÜ und der von der Kommission im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichte verbindlich seien und zum anderen, ob eine systemische Gefahr der Straflosigkeit im Bereich der Bekämpfung von Betrug und Korruption drohe. Schließlich haben die Gerichte auch die Frage aufgeworfen, ob die Grundsätze des Vorrangs des Unionsrechts und der richterlichen Unabhängigkeit es ihnen erlaubten, eine Entscheidung des VerfGH unangewendet zu lassen, obwohl nach rumänischem Recht die Nichtbeachtung einer Entscheidung des VerfGH durch Richter ein Disziplinarvergehen darstelle.
EuGH bestätigt Verbindlichkeit des VZÜ
Der Gerichtshof hat seine Rechtsprechung aus einem früheren Urteil, wonach das VZÜ in allen seinen Teilen für Rumänien verbindlich ist, bestätigt. Die für Rumänien vor seinem Beitritt zur Union erlassenen Rechtsakte seien seit dessen Beitritt bindend. Insbesondere müsse sich Rumänien an die Vorgaben, die die Beachtung der Rechtsstaatlichkeit sicherstellen sollen, halten und die zur Erreichung dieser Vorgaben geeigneten Maßnahmen unter Berücksichtigung der Kommissionberichte ergreifen. Es bestehe die Verpflichtung, wirksame und abschreckende Sanktionen für Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder Korruptionsdelikte vorzusehen. Das Unionsrecht stehe der Anwendung einer Rechtsprechung des VerfGH, die die Nichtigerklärung von Urteilen zur Folge habe, die von nicht ordnungsgemäß besetzten Spruchkörpern erlassen wurden, entgegen, wenn diese Rechtsprechung in Verbindung mit den nationalen Verjährungsvorschriften eine systemische Gefahr der Straflosigkeit von schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder von Korruptionsdelikten begründe.
Garantie der richterlichen Unabhängigkeit
Das Unionsrecht stehe dem nicht entgegen, dass die Entscheidungen des VerfGH für die ordentlichen Gerichte bindend seien, sofern die Unabhängigkeit des VerfGH gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive gewährleistet sei. Hingegen stehe das Unionsrecht dem entgegen, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der nationalen Richter durch jegliche Nichtbeachtung solcher Entscheidungen ausgelöst werde. Erstens müsse jedes Gericht, das Unionsrecht anzuwenden oder auszulegen habe, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden. Dazu sei die Unabhängigkeit der Gerichte von grundlegender Bedeutung. Insoweit müssten die Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, geschützt sein. Außerdem sei nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten.
Unabhängigkeit des VerfGH muss gewährleistet sein
Auch wenn das Unionsrecht den Mitgliedstaaten kein konkretes verfassungsrechtliches Modell vorgebe, das die Beziehungen zwischen den verschiedenen Staatsgewalten regele, müssten die Mitgliedstaaten gleichwohl insbesondere die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit der Gerichte beachten. Unter diesen Umständen könnten die Entscheidungen des VerfGH für die ordentlichen Gerichte bindend sein, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit des VerfGH gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive gewährleiste. Wenn dagegen das nationale Recht diese Unabhängigkeit nicht gewährleiste, stehe das Unionsrecht einer solchen nationalen Regelung oder Praxis entgegen, da ein solches Verfassungsgericht nicht in der Lage sei, den nach dem Unionsrecht erforderlichen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten.
Disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern nur in engen Grenzen zulässig
Die Disziplinarregelung zum Zweck der Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte müsse die erforderlichen Garantien aufweisen, damit jegliche Gefahr verhindert werde, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt werde. Insoweit könne ein etwaiger Fehler in einer Gerichtsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts oder bei der Würdigung des Sachverhalts und der Beweise für sich allein nicht zur Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit des betreffenden Richters führen. Die Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit eines Richters wegen einer Gerichtsentscheidung müsse auf außergewöhnliche Fälle beschränkt bleiben und durch Garantien beschränkt sein, die darauf abzielen, jegliche Gefahr eines Drucks von außen bezüglich des Inhalts von Gerichtsentscheidungen zu vermeiden. Eine nationale Regelung, wonach jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des VerfGH durch die nationalen Richter ordentlicher Gerichte deren disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen könne, erfülle diese Voraussetzungen nicht.
Vorrang des Unionsrechts
Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts stehe dem entgegen, dass es nationalen Gerichten unter Androhung von Disziplinarsanktionen untersagt sei, Entscheidungen des VerfGH, die gegen das Unionsrecht verstießen, unangewendet zu lassen. Der EuGH weist darauf hin, dass er in seiner Rechtsprechung zum EWG-Vertrag den Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts entwickelt hat, der den Vorrang dieses Rechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten begründet. Hierzu habe er festgestellt, dass die Schaffung einer eigenen Rechtsordnung durch den EWG-Vertrag, die von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommen wurde, zur Folge habe, dass die Mitgliedstaaten weder gegen diese Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen geltend machen können noch dem aus dem EWG-Vertrag hervorgegangenen Recht Vorschriften des nationalen Rechts gleich welcher Art entgegensetzen können.
EWG-Vertrag unverzichtbare Rechtsgrundlage der Gemeinschaft
Andernfalls würde diesem Recht sein Gemeinschaftscharakter aberkannt und die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt, betont der EuGH. Außerdem würde es eine Gefahr für die Verwirklichung der Ziele des EWG-Vertrags bedeuten und hätte es eine nach diesem Vertrag verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zur Folge, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte. Daher stellt der Gerichtshof fest, dass der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft darstellt und dass die wesentlichen Merkmale der so verfassten Rechtsordnung der Gemeinschaft insbesondere ihr Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen sind.