EuGH: Rückführungsrichtlinie auch nach Wiedereinführung von Kontrollen an Binnengrenzen anzuwenden

Das in der Rückführungsrichtlinie vorgesehene Rückführungsverfahren ist auf einen illegal aufhältigen, in unmittelbarer Nähe einer EU-Binnengrenze aufgegriffen Drittstaatsangehörigen auch dann anzuwenden, wenn der betreffende EU-Staat wieder Kontrollen eingeführt hat. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 19.03.2019 entschieden. Eine Binnengrenze eines Mitgliedstaats, an der Kontrollen wieder eingeführt worden seien, könne einer Außengrenze im Sinne der Rückführungsrichtlinie nicht gleichgestellt werden (Az.: C-444/17).

Marokkaner in Frankreich nahe spanischer Grenze kontrolliert

Ein marokkanischer Staatsangehöriger wurde in Frankreich in der Nähe der Grenze zu Spanien in einem aus Marokko kommenden Reisebus kontrolliert. Zuvor war gegen ihn in Frankreich eine aufenthaltsbeendende Maßnahme verhängt worden. Er wurde wegen des Verdachts der illegalen Einreise nach Frankreich in Gewahrsam genommen. Der Präfekt des Departements Pyrénées-Orientales verfügte, dass er Frankreich zu verlassen habe, und ordnete seine Unterbringung in Abschiebehaft an. Der Haftrichter erklärte die Ingewahrsamnahme für nichtig. Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung, Daraufhin legte der Präfekt eine Kassationsbeschwerde beim Kassationsgerichtshof ein.

Frankreich hatte vorübergehend Kontrollen an den Binnengrenzen eingeführt

Der Grundsatz der Freizügigkeit im Schengen-Raum führt zum Wegfall der Kontrollen von Personen, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten überschreiten. Die fragliche Kontrolle wurde im Juni 2016 vorgenommen, als in Frankreich vorübergehend Kontrollen an den Binnengrenzen wieder eingeführt worden waren. Zu dieser Zeit galt in Frankreich der Ausnahmezustand. Die Kontrollen an den Binnengrenzen waren angesichts der ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit im Einklang mit den Bestimmungen des Schengener Grenzkodex wieder eingeführt worden.

Vorlagegericht: Binnengrenze bei wieder eingeführten Kontrollen Außengrenze gleichzustellen?

Der Kassationsgerichtshof weist darauf hin, dass die Rückführungsrichtlinie es den Mitgliedstaaten erlaube, das darin für Drittstaatsangehörige vorgesehene Rückführungsverfahren nicht anzuwenden, wenn diese einem Einreiseverbot unterlägen oder in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats aufgegriffen oder abgefangen würden und nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten hätten, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten. Das Gericht wollte vom EuGH wissen, ob eine Binnengrenze, an der eine Kontrolle wieder eingeführt worden sei, für die Zwecke dieser Richtlinie einer Außengrenze gleichgestellt werden könne und ob daher Frankreich beschließen könne, in Bezug auf den Betroffenen das in der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG vorgesehene Verfahren nicht anzuwenden.

EuGH: Ausnahme von der Anwendung des Rückführungsverfahrens greift nicht

Der EuGH hat entschieden, dass die Ausnahme von der Anwendung des in der Rückführungsrichtlinie vorgesehenen Rückführungsverfahrens bei einem Drittstaatsangehörigen nicht greift, der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze aufgegriffen wird und der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältig ist, auch wenn dieser Mitgliedstaat wegen einer ernsthaften Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit Kontrollen an dieser Grenze wieder eingeführt hat.

Illegale Einreise über Binnengrenze rechtfertigt Ausnahme auch bei wieder eingeführten Kontrollen nicht

Laut EuGH ist vorliegend zu bestimmen, ob ein Drittstaatsangehöriger, der sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhalte und der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze dieses Mitgliedstaats aufgegriffen worden sei, unter die vorgesehene Ausnahme von der Anwendung der Rückführungsrichtlinie falle, wenn der betreffende Mitgliedstaat nach Art. 25 des Schengener Grenzkodex Kontrollen an dieser Grenze wieder eingeführt hat. Der EuGH verneint dies. Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung sei die Rückführungsrichtlinie dahin auszulegen, dass sie es den Mitgliedstaaten nicht erlaube, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige nur wegen ihrer illegalen Einreise über eine Binnengrenze vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie auszunehmen. An dieser Einschätzung könne sich auch nichts dadurch ändern, dass ein Mitgliedstaat an den Binnengrenzen Kontrollen wieder eingeführt hat. Insoweit brauche im Hinblick auf den von der Rückführungsrichtlinie angestrebten Zweck im Falle eines in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze aufgegriffen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nicht danach unterschieden zu werden, ob an dieser Grenze Kontrollen wieder eingeführt wurden oder nicht.

Binnengrenze mit Außengrenze nicht gleichzustellen

Ferner ergebe sich aus dem Schengener Grenzkodex, dass eine Binnengrenze, an der von einem Mitgliedstaat Kontrollen wieder eingeführt worden seien, nicht mit einer Außengrenze im Sinne dieses Kodex gleichbedeutend ist, so der EuGH weiter. Denn nach dem Schengener Grenzkodex schlössen die Begriffe "Binnengrenzen" und "Außengrenzen" einander aus. Der Kodex sehe lediglich vor, dass bei der Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen durch einen Mitgliedstaat nur die einschlägigen Bestimmungen dieses Kodex über die Außengrenzen entsprechend Anwendung finden. Nach Ansicht des EuGH steht daher bereits der Wortlaut des Schengener Grenzkodex der Gleichstellung einer Binnengrenze, an der Kontrollen wieder eingeführt worden seien, mit einer Außengrenze entgegen.

EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-444/17

Redaktion beck-aktuell, 19. März 2019.