Mann nach Zustellung der Anklage nicht mehr auffindbar
In Bulgarien war ein Strafverfahren gegen einen Mann eingeleitet worden. Eine erste Anklageschrift war ihm persönlich zugestellt worden, und der Angeklagte hatte eine Anschrift mitgeteilt, an der er kontaktiert werden könne. Bei Einleitung der gerichtlichen Phase konnte er dort jedoch nicht angetroffen werden, sodass das bulgarische Strafgericht ihn nicht zur Verhandlung laden konnte. Der von diesem Gericht von Amts wegen bestellte Rechtsanwalt war nicht mit dem Angeklagten in Kontakt getreten. Außerdem wurde die dem Angeklagten zugestellte Anklageschrift, da sie einen Formfehler aufwies, für nichtig erklärt und das Verfahren wurde beendet. Nach Erstellung einer neuen Anklageschrift und der Wiedereröffnung des Verfahrens wurde der Angeklagte erneut gesucht, konnte aber nicht aufgefunden werden. Das vorlegende Gericht leitete daraus schließlich ab, dass der Angeklagte flüchtig sei und dass die Sache unter diesen Umständen in seiner Abwesenheit entschieden werden könne. Damit der Betroffene über die ihm zur Verfügung stehenden Verfahrensgarantien ordnungsgemäß informiert wird, möchte das vorlegende Gericht jedoch wissen, unter welchen in der Richtlinie 2016/3431 vorgesehenen Fall die Situation des Angeklagten fällt, der – nach Übermittlung der ersten Anklageschrift und vor Einleitung der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens – geflohen ist.
EuGH: Verurteilung in Abwesenheit möglich – Recht auf neue Verhandlung
Laut EuGH sind die Art. 8 und 9 RL 2016/3431 dahin auszulegen, dass eine beschuldigte Person, deren Auffindung den zuständigen nationalen Behörden trotz ihrer angemessenen Bemühungen nicht gelungen ist und der sie aufgrund dieses Umstands nicht die Informationen über das gegen sie eingeleitete Verfahren übermitteln konnten, Gegenstand einer Verhandlung und gegebenenfalls einer Verurteilung in Abwesenheit sein kann. In diesem Fall müsse die Person jedoch, nachdem sie über diese Verurteilung unterrichtet worden ist, grundsätzlich die Möglichkeit haben, sich unmittelbar auf das von dieser Richtlinie gewährte Recht zu berufen, eine neue Verhandlung oder den Zugang zu einem gleichwertigen Rechtsbehelf zu verlangen, die beziehungsweise der zu einer neuen Prüfung des Sachverhalts in ihrer Anwesenheit führt. Der Gerichtshof stellt jedoch klar, dass dieses Recht der betreffenden Person verweigert werden kann, wenn sich aus genauen und objektiven Indizien ergibt, dass sie hinreichende Informationen erhalten hat, sodass sie wusste, dass eine Verhandlung gegen sie durchgeführt werden sollte, und sie durch vorsätzliche Handlungen und in der Absicht, sich dem Handeln der Justiz zu entziehen, die Behörden daran gehindert hat, sie offiziell über diese Verhandlung zu unterrichten.
Nationales Gericht muss ordnungsgemäße Ladung prüfen
Zur Unterrichtung über die Verhandlung und die Folgen eines Nichterscheinens präzisiert der Gerichtshof, dass es Sache des betreffenden nationalen Gerichts ist, zu überprüfen, ob ein amtliches Dokument, in dem der für die Verhandlung festgelegte Termin und Ort und – falls keine Vertretung durch einen bevollmächtigten Rechtsanwalt besteht – die Folgen eines etwaigen Nichterscheinens unmissverständlich dargelegt sind, zur Kenntnisnahme durch den Betroffenen ausgestellt wurde. Im Übrigen müsse dieses Gericht überprüfen, ob dieses Dokument rechtzeitig, das heißt zu einem Zeitpunkt, der hinreichend weit von dem für die Verhandlung festgelegten Termin entfernt ist, so zugestellt wurde, dass der Betroffene, wenn er beschließt, an der Verhandlung teilzunehmen, seine Verteidigung sachgerecht vorbereiten kann.
Flüchtigsein allein reicht nicht aus für Ausschluss neuer Verhandlung
Was insbesondere die beschuldigten Personen betrifft, die flüchtig sind, stellt der EuGH fest, dass die Richtlinie 2016/343 einer nationalen Regelung entgegensteht, die das Recht auf eine neue Verhandlung allein deshalb ausschließt, weil die betreffende Person flüchtig ist und es den Behörden nicht gelungen ist, sie aufzufinden. Nur wenn sich aus genauen und objektiven Indizien ergebe, dass die Person zwar amtlich von dem Vorwurf, eine Straftat begangen zu haben, in Kenntnis gesetzt wurde und wusste, dass eine Verhandlung gegen sie durchgeführt werden sollte, sich aber dennoch vorsätzlich so verhalten hat, sich einer offiziellen Entgegennahme von Informationen über Termin und Ort der Verhandlung zu entziehen, könne für diese Person davon ausgegangen werden, dass sie über die Verhandlung unterrichtet wurde und freiwillig und unmissverständlich darauf verzichtet hat, ihr Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung wahrzunehmen. Diese Situation werde von dem in Art. 8 Abs. 2 RL 2016/343 genannten Fall erfasst. Das Vorliegen solcher genauen und objektiven Indizien könne unter anderem dann festgestellt werden, wenn die Person den zuständigen nationalen Strafverfolgungsbehörden vorsätzlich eine falsche Anschrift mitgeteilt hat oder nicht mehr unter der von ihr mitgeteilten Anschrift anzutreffen ist, so der EuGH weiter.