EuGH: Prüfung der Haftbedingungen in Ungarn muss sich auf konkrete Anstalt beziehen

Eine vor der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls erfolgende etwaige Prüfung der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat muss sich auf die Haftanstalten beschränken, in denen die betroffene Person konkret inhaftiert werden soll. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 25.07.2018 entschieden. Die Möglichkeit der betroffenen Person, im Ausstellungsmitgliedstaat die Haftbedingungen in Frage zu stellen, genüge nicht, um das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher Behandlung auszuschließen, betont der EuGH (Az.: C-220/18 PPU).

Ungar aufgrund EU-Haftbefehls in Deutschland in Auslieferungshaft

Im zugrundeliegenden Fall wurde ein ungarischer Staatsangehöriger in Ungarn wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung, Betrugs in einem minderschweren Fall und Einbruchsdiebstahls strafrechtlich verfolgt. Nachdem der Nyíregyházi Járásbíróság (Kreisgericht Nyíregyháza, Ungarn) ihn in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt hatte, erließ dieses Gericht im Hinblick auf die Vollstreckung dieser Strafe einen Europäischen Haftbefehl. Seit dem 23.11.2017 befindet sich der Mann in Deutschland in Auslieferungshaft.

OLG Bremen nimmt ungarische Haftbedingungen in den Blick

Das Oberlandesgericht Bremen hatte im Hinblick auf die Haftbedingungen in Ungarn Zweifel, ob der Verurteilte an die ungarischen Behörden übergeben werden darf. Nach Auffassung des Gerichts bestehen Anhaltspunkte, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in Ungarn belegten, sodass der Mann dort der Gefahr ausgesetzt sein könnte, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erleiden. In Anbetracht des Urteils des EuGH in den Rechtssachen Aranyosi und Căldăraru (BeckRS 2016, 80575) hält das OLG Bremen es daher für erforderlich, zusätzliche Informationen zu den Bedingungen einzuholen, unter denen der Verurteilte in Ungarn inhaftiert werden könnte. Vor diesem Hintergrund ersuchte es den EuGH um weitere Klarstellungen hinsichtlich des weiteren Vorgehens.

EuGH: OLG muss Mängel-Prämisse überprüfen

Der EuGH betont, dass er nicht nach dem Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in Ungarn gefragt wird. Er antwortete dem OLG Bremen zwar unter Zugrundelegung der Prämisse, dass derartige Mängel vorliegen. Jedoch falle diese Prämisse in die alleinige Verantwortung des OLG, das deren Richtigkeit unter Berücksichtigung gebührend aktualisierter Angaben zu überprüfen habe.

Situation jeder betroffenen Person individuell zu prüfen

Sodann stellt der EuGH erstens fest, dass, selbst wenn ein Ausstellungsmitgliedstaat wie Ungarn seit Anfang 2017 Rechtsschutzmöglichkeiten vorsieht, die es ermöglichen, die Rechtmäßigkeit der Haftbedingungen im Hinblick auf die Grundrechte zu überprüfen, die vollstreckenden Justizbehörden weiterhin verpflichtet seien, die Situation jeder betroffenen Person individuell zu prüfen, um sich zu vergewissern, dass ihre Entscheidung über die Übergabe dieser Person diese nicht aufgrund dieser Bedingungen einer echten Gefahr aussetze, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden.

Nur Umstände in konkret in Betracht kommenden Haftanstalten relevant

Zweitens weist der Gerichtshof darauf hin, dass die vollstreckenden Justizbehörden, die über die Übergabe einer Person zu entscheiden haben, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, konkret und genau prüfen müssten, ob unter den konkreten Umständen eine echte Gefahr bestehe, dass diese Person im Ausstellungsmitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird. Der EuGH stellt insoweit klar, dass diese Behörden nur verpflichtet sind, die Haftbedingungen in den Haftanstalten zu prüfen, in denen die betroffene Person nach den dieser Behörde vorliegenden Informationen, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll. Die Vereinbarkeit der Haftbedingungen in anderen Haftanstalten, in denen die Person gegebenenfalls später inhaftiert werden könnte, mit den Grundrechten falle in die alleinige Zuständigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats.

Funktionsfähigkeit des Europäischen Haftbefehls darf nicht lahmgelegt werden

Drittens entschied der EuGH, dass die vollstreckende Justizbehörde nur die konkreten und genauen Haftbedingungen der betroffenen Person prüfen müsse, die relevant seien, um zu bestimmen, ob diese einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird. So seien die Religionsausübung, die Möglichkeit zu rauchen, die Modalitäten der Reinigung der Bekleidung sowie die Installation von Gittern oder eines Sichtschutzes vor den Fenstern der Zellen grundsätzlich Aspekte der Haft, denen keine offensichtliche Bedeutung zukomme. Jedenfalls müsse die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie es für erforderlich erachtet, die ausstellende Justizbehörde um unverzügliche Übermittlung zusätzlicher Informationen zu den Haftbedingungen zu bitten, sicherstellen, dass ihre Fragen nicht nach Anzahl und Umfang dazu führen, dass die Funktionsfähigkeit des Europäischen Haftbefehls lahmgelegt wird. Denn dieser bezwecke gerade, die Übergaben im gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu beschleunigen und zu erleichtern.

Auf Zusicherung ordnungsgemäßer Haftbedingungen grundsätzlich zu vertrauen

Viertens müsse sich die vollstreckende Justizbehörde, wenn die ausstellende Justizbehörde zusichere, dass die betroffene Person unabhängig von der Haftanstalt, in der sie im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert werden wird, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung aufgrund ihrer konkreten und genauen Haftbedingungen erfahren werde, in Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem das System des Europäischen Haftbefehls beruhe, auf diese Zusicherung zumindest dann verlassen, wenn keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen. Gehe diese Zusicherung wie in der vorliegenden Rechtssache nicht von einer Justizbehörde aus, so sei die Garantie, die eine solche Zusicherung darstelle, durch eine Gesamtbeurteilung aller der vollstreckenden Justizbehörde zur Verfügung stehenden Informationen zu würdigen. Im vorliegenden Fall ist der EuGH der Ansicht, dass die Übergabe des Mannes an die ungarischen Behörden im Einklang mit dessen Grundrecht, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, zulässig erscheine, was jedoch das OLG Bremen zu prüfen habe.

Echte Gefahr unmenschlicher Behandlung wohl zu verneinen

Das OLG Bremen sei nämlich selbst der Ansicht, dass die ihm zur Verfügung stehenden Informationen bezüglich der Haftbedingungen in der Strafvollzugsanstalt Szombathely, in der der Verurteilte, wie feststehe, den wesentlichen Teil seiner Freiheitsstrafe verbüßen müsste, das Vorliegen einer echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausschließen. Außerdem schienen, was die Strafvollzugsanstalt Budapest anbelange, in der der Mann vor seiner Verlegung nach Szombathely für die Dauer von drei Wochen inhaftiert wäre, eine vom ungarischen Justizministerium erteilte Zusicherung sowie die Informationen, über die die Generalstaatsanwaltschaft Bremen verfüge, die Annahme zu erlauben, dass auch die Haftbedingungen in dieser Strafvollzugsanstalt, die jede Person durchläuft, gegen die ein von den ungarischen Behörden ausgestellter Europäischer Haftbefehl ergangen ist, dieses Grundrecht nicht verletzen.

EuGH, Urteil vom 25.07.2018 - C-220/18

Redaktion beck-aktuell, 25. Juli 2018.