EuGH: Prüfpflicht der Mitgliedstaaten bei Auslieferungsersuchen eines Drittstaats

Hat ein Mitgliedstaat über ein Auslieferungsersuchen eines Drittstaats zu entscheiden, das einen Angehörigen eines dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) angehörenden Staates der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) betrifft, muss er gemäß Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union prüfen, ob dieser Staatsangehörige im Fall der Auslieferung nicht der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen wird. Dies hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs am 02.04.2020 in einem Eilvorabentscheidungsverfahren im Fall Ruska Federacija entschieden (Az.: C-897/19 PPU).

 

Asylgewährung als Indiz

Bei dieser Prüfung stelle der Umstand, dass der Betroffene vor dem Erwerb der Staatsangehörigkeit des betreffenden EFTA-Staates von ihm gerade wegen der Verfolgung, die dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegt, Asyl erhalten hat, einen besonders gewichtigen Gesichtspunkt dar. Vor einer Entscheidung über das Auslieferungsersuchen müsse der Mitgliedstaat den EFTA-Staat hiervon in Kenntnis setzen, damit dieser um die Übergabe seines Staatsangehörigen ersuchen kann, sofern der EFTA-Staat nach seinem nationalen Recht für die Verfolgung dieses Staatsangehörigen wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig ist.

Kroatisches Gericht erlaubte Auslieferung mittlerweile isländischen Staatsangehörigen an Russland

Im vorliegenden Fall schrieb Interpol Moskau (Russland) am 20.05.2015 einen russischen Staatsangehörigen international zur Fahndung aus. Am 30.06.2019 wurde dieser Staatsangehörige, der inzwischen die isländische Staatsangehörigkeit erworben hatte, auf der Grundlage der genannten internationalen Fahndungsausschreibung in Kroatien festgenommen. Am 06.08.2019 stellte Russland bei den kroatischen Behörden ein Auslieferungsersuchen. Das kroatische Gericht, das über die Auslieferung zu entscheiden hatte, hielt die gesetzlichen Voraussetzungen für erfüllt und ließ die Auslieferung zu.

Betroffener fürchtete Folter in Russland

Der Betroffene beantragte daraufhin beim Vrhovni sud (Oberster Gerichtshof, Kroatien) die Aufhebung dieser Entscheidung. Er berief sich in diesem Zusammenhang auf das Risiko, im Fall einer Auslieferung an Russland der Folter und einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, und auf den Umstand, dass Island ihm, bevor er die isländische Staatsangehörigkeit erlangt habe, gerade wegen seiner Verfolgung in Russland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe. Er rügte außerdem einen Verstoß gegen das Urteil Petruhhin (NJW 2017, 378). In diesem hatte der EuGH entschieden, dass ein Mitgliedstaat, an den ein Auslieferungsersuchen für einen Unionsbürger mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats, der sich in seinem Hoheitsgebiet aufhält, gerichtet wird, diesen anderen Mitgliedstaat darüber zu informieren hat. Zudem muss er ihm auf sein Ersuchen diesen Unionsbürger im Einklang mit dem Rahmenbeschluss 2002/5843 übergeben, sofern der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, für die Verfolgung des Unionsbürgers wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig ist.

EuGH soll Anwendbarkeit des Urteils Petruhhin auf Nicht-EU-Bürger klären

In der vorliegenden Rechtssache wollte der Vrhovni sud vom Gerichtshof wissen, ob der im Urteil Petruhhin vorgenommenen Auslegung bei einem Sachverhalt zu folgen sei, in dem es nicht um einen Unionsbürger geht, sondern um einen isländischen Staatsangehörigen, da Island ein dem EWR-Abkommen angehörender EFTA-Staat sei.

EuGH: Anwendungsbereich des Unionsrechts durch EWR-Abkommen eröffnet

Als Erstes hat der Gerichtshof die Anwendbarkeit des Unionsrechts auf diesen Sachverhalt geprüft. Insoweit hat er festgestellt, dass die im Urteil Petruhhin ausgelegten Art. 18 AEUV (Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit) und Art. 21 AEUV (Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit von Unionsbürgern) im vorliegenden Fall nicht anwendbar sind, da es sich nicht um einen Unionsbürger handelt. Der in Rede stehende Sachverhalt falle jedoch trotzdem in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, genauer gesagt in den des EWR-Abkommens, das als von der Union geschlossenes völkerrechtliches Abkommen integraler Bestandteil des Unionsrechts sei. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, hat der Gerichtshof zunächst auf die privilegierten Beziehungen hingewiesen, die Island zur Union unterhält. Dieser Drittstaat gehöre nicht nur zum Schengen-Raum und sei Vertragspartei des EWR-Abkommens, sondern beteilige sich auch am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem und habe mit der Union ein Übereinkommen über das Übergabeverfahren geschlossen.

Freier Dienstleistungsverkehr betroffen

Der Gerichtshof hat sodann festgestellt, dass Art. 36 des EWR-Abkommens den freien Dienstleistungsverkehr gewährleistet, und zwar im Wesentlichen in gleicher Weise wie Art. 56 AEUV. Schließlich hat er entschieden, dass der freie Dienstleistungsverkehr sowohl im Sinn des Art. 56 AEUV als auch im Sinn des EWR-Abkommens die Freiheit einschließt, sich in einen anderen Staat zu begeben, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Das sei hier der Fall, da der betroffene isländische Staatsangehörige beabsichtigte, seinen Urlaub in Kroatien zu verbringen und somit dort touristische Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen.

Isländisches Asyl steht Auslieferung durch Kroatien entgegen

Nach dem anwendbaren Art. 19 Abs. 2 der Charta dürfe niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung bestehe. Daher müsse der ersuchte Mitgliedstaat vor einer etwaigen Auslieferung prüfen, dass die in dem Artikel genannten Rechte nicht beeinträchtigen werden. Dabei stelle im vorliegenden Fall die Tatsache, dass dem Betroffenen in Island Asyl gewährt worden ist, einen besonders gewichtigen Gesichtspunkt für diese Prüfung dar. Dies gelte umso mehr, wenn die Asylgewährung gerade auf die Strafverfolgung gestützt wurde, die dem Auslieferungsersuchen zugrunde lag. Dies müsse Kroatien veranlassen, die Auslieferung abzulehnen, wenn keine besonderen Umstände wie eine grundlegende Entwicklung der Lage in Russland oder Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Betroffene die Strafverfolgung zum Zeitpunkt seines Asylantrags verschwiegen hatte.

Eingriff in Dienstleistungsfreiheit kann gerechtfertigt sein

Weiter hat der Gerichtshof unter anderem für den Fall, dass der ersuchte Mitgliedstaat der Auffassung ist, dass die Charta der Auslieferung nicht entgegensteht, darauf hingewiesen, dass nationale Vorschriften, die die Auslieferung eigener Staatsangehöriger verbieten, wie dies in Kroatien der Fall ist, eine Ungleichbehandlung schaffen. Denn sie führten dazu, dass den Staatsangehörigen der anderen EFTA-Staaten, die Vertragsparteien des EWR-Abkommens sind, nicht der gleiche Schutz vor Auslieferung gewährt werde. Somit könnten diese Bestimmungen den freien Dienstleistungsverkehr im Sinne von Art. 36 des EWR-Abkommens beeinträchtigen. Eine solche Beschränkung lasse sich nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruhe und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck stehe. Im vorliegenden Fall sei das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Personen straflos bleiben, die sich in einem anderen Hoheitsgebiet als demjenigen befinden, in dem sie die vorgeworfene Straftat begangen haben sollen, als legitim anzusehen. Außerdem erschienen Vorschriften, die die Auslieferung dieser Personen an einen Drittstaat ermöglichen, zur Erreichung dieses Ziels geeignet.

Informationsaustausch mit betroffenem EFTA-Staat vorzuziehen

Zur Verhältnismäßigkeit einer solchen Beschränkung hat der Gerichtshof jedoch entschieden, dass dem Informationsaustausch mit dem EFTA-Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, der Vorzug zu geben sei, um ihm Gelegenheit zu geben, ein Ersuchen auf Übergabe seines Staatsangehörigen zum Zweck der Strafverfolgung zu stellen. Da der Rahmenbeschluss 2002/584 nicht für Island gelte, komme eine Übergabe auf der Grundlage des Übereinkommens über das Übergabeverfahren in Betracht, dessen Bestimmungen denen des Rahmenbeschlusses sehr ähnlich seien.

Überlegungen aus Urteil Petruhhin auf isländischen Staatsangehörigen anzuwenden

Im Ergebnis hat der Gerichtshof daher entschieden, dass die im Urteil Petruhhin gewählte Lösung entsprechend auf einen isländischen Staatsangehörigen anzuwenden ist, der sich gegenüber dem Drittstaat, der um seine Auslieferung ersucht, in einer objektiv vergleichbaren Lage befinde wie ein Unionsbürger, dem die Union nach Art. 3 Abs. 2 EUV einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen biete, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet sei.

EuGH, Urteil vom 02.04.2020 - C-897/19

Redaktion beck-aktuell, 2. April 2020.