EuGH präzisiert Anforderungen an die Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls

Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Europäischer Haftbefehl gegen eine Person, die in Spanien wegen der Straftat der Verherrlichung des Terrorismus und der Erniedrigung seiner Opfer verurteilt wurde, vollstreckt werden muss, ohne zu prüfen, ob diese Tat auch in Belgien mit Strafe bedroht ist, haben die belgischen Gerichte die Dauer der Strafe zu berücksichtigen, die in den für die begangenen Taten geltenden spanischen Rechtsvorschriften vorgesehen ist. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 03.03.2020 entschieden (Az.: C-717/18).

Änderung spanischer Strafvorschrift nach Verurteilung

Im Jahr 2017 verurteilte der Nationale Gerichtshof Spaniens den Rapper Valtònyc wegen Taten in den Jahren 2012 und 2013, die gemäß Art. 578 des spanischen Strafgesetzbuchs in seiner zum Zeitpunkt dieser Taten geltenden Fassung Straftaten der Verherrlichung des Terrorismus und der Erniedrigung seiner Opfer darstellten. Dabei verhängte sie gegen ihn eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, bei der es sich nach dieser Fassung der spanischen Strafvorschrift um die Höchststrafe handelte. Im Jahr 2015 wurde die Vorschrift jedoch geändert. Sie sieht nunmehr eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vor. Nachdem der Verurteilte aus Spanien nach Belgien ausgereist war, erließ der Nationale Gerichtshof im Jahr 2018 gegen ihn einen Europäischen Haftbefehl wegen der Straftat des "Terrorismus", die zu den Straftaten gehört, bei denen die Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit entfällt.

Vorlagefrage: Welcher Zeitpunkt für Prüfung relevant?

Der im Rahmen des Verfahrens zur Vollstreckung des Haftbefehls mit der Berufung befasste belgische Appellationshof in Gent war sich nicht sicher, welche Fassung von Art. 578 des spanischen Strafgesetzbuchs bei der Prüfung heranzuziehen ist. Es sei unklar, ob im vorliegenden Fall die Voraussetzung einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens drei Jahren, also die zum Zeitpunkt der Tatbegehung geltende Fassung, erfüllt gewesen sei oder die zum Zeitpunkt der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls geltende Fassung. Deshalb ersuchte der Appellationshof den Gerichthof um Klärung und Vorabentscheidung.

EuGH: Bei Tatbegehung geltendes Mindeststrafmaß ist grundsätzlich maßgebend

Der Gerichtshof hat zunächst festgestellt, dass dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses nicht zu entnehmen ist, welche Fassung des Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats heranzuziehen ist, wenn sich dieses Recht zwischen der Begehung der fraglichen Taten und dem Zeitpunkt der Ausstellung oder der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls geändert hat. Sodann hat der Gerichtshof in Bezug auf den Kontext von Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses darauf hingewiesen, dass dessen Abs. 1 vorsehe, dass bei Verurteilungen zu einer Strafe von mindestens vier Monaten ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt werden könne. Dieses Mindeststrafmaß könne sich jedoch nur auf die Strafe beziehen, die nach dem für die abgeurteilten Taten geltenden Recht des Ausstellungsmitgliedstaats konkret verhängt wurde und nicht auf die Strafe, die nach dem zum Zeitpunkt der Ausstellung des Haftbefehls geltenden Recht dieses Mitgliedstaats hätte verhängt werden können.

Fälle nach Abs. 1 und Abs. 2 gleich zu behandeln

Nichts anderes könne für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gemäß Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses gelten. Denn eine Auslegung, wonach die vollstreckende Justizbehörde ein zu einem anderen Zeitpunkt geltendes Recht des Ausstellungsmitgliedstaats heranziehen müsste, je nachdem, ob sie prüft, ob der Europäische Haftbefehl gemäß Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses erlassen werden könne oder ob er gemäß Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zu vollstrecken sei, würde die kohärente Anwendung dieser beiden Vorschriften beeinträchtigen.

Auslegung des EuGH wird durch Anhang des Rahmenbeschlusses bestätigt

Ferner werde die Auslegung, wonach die für die betreffenden Taten geltende Fassung des Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats heranzuziehen sei, durch Art. 8 des Rahmenbeschlusses bestätigt. Er sehe vor, dass der Europäische Haftbefehl entsprechend dem Formblatt im Anhang des Rahmenbeschlusses Informationen über die verhängte Strafe oder den für die betreffende Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat gesetzlich vorgeschriebenen Strafrahmen enthalte. Aus diesem Formblatt gehe hervor, dass die Informationen die "verhängte" Strafe beträfen, sodass es sich um die Strafe handele, die sich aus der für die betreffenden Taten geltenden Fassung des Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats ergebe.

Behörden müssen auf Informationen des Haftbefehls vertrauen können

Für die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung spreche zudem der Zweck des Rahmenbeschlusses, der darin bestehe, die justizielle Zusammenarbeit durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt wurden oder einer Straftat verdächtigt werden, zu erleichtern und zu beschleunigen. Deshalb müsse sich die vollstreckende Justizbehörde auf die im Europäischen Haftbefehl selbst enthaltenen Informationen über die Dauer der Strafe stützen können. Würde von ihr verlangt, dass sie prüfe, ob das für die fraglichen Taten geltende Recht des Ausstellungsmitgliedstaats nach ihrer Begehung geändert wurde, liefe dies zum einen dem Zweck des Rahmenbeschlusses zuwider und verstieße zum anderen in Anbetracht der Schwierigkeiten, die diese Behörde bei der Bestimmung der verschiedenen möglicherweise relevanten Fassungen dieses Rechts haben könnte, gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.

Vollstreckende Justizbehörde hat Kriterium der beiderseitigen Strafbarkeit zu prüfen

Schließlich hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass der Umstand, dass bei der in Rede stehenden Straftat nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses eine Übergabe ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit nicht möglich ist, noch nicht bedeutet, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist. Die vollstreckende Justizbehörde habe nämlich in Bezug auf diese Straftat das in Art. 2 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses aufgestellte Kriterium der beiderseitigen Strafbarkeit zu prüfen.

EuGH, Urteil vom 03.03.2020 - C-717/18

Redaktion beck-aktuell, 3. März 2020.