Streit mit Polen über Vorrang von EU-Recht
Dazu gehöre auch der "Anwendungsvorrang" des EU-Rechts, so Lenaerts. Das polnische Verfassungsgericht hatte jüngst allerdings erklärt, dass dieser “Anwendungsvorrang“ vor der Landesverfassung nicht gelte. Vielmehr seien Teile des EU-Rechts nicht mit Polens Verfassung vereinbar. Die EU-Kommission, aber auch etliche EU-Staaten sehen dieses Urteil sehr kritisch. Es könnte der nationalkonservativen Regierung in Warschau einen Vorwand geben, ihr unliebsame Urteile des Europäischen Gerichtshofes zu ignorieren.
Lenaerts: Nationale Souveränität entbindet nicht von Vertragspflichten
Zu dem konkreten Urteil und dem Konflikt mit Polen wollte Lenaerts sich nicht äußern. Stattdessen machte er allgemeine Anmerkungen. Er betonte, es wäre “ein Missbrauch nationaler Verfassungen, wenn man dort Dinge hineinschriebe, die gegen unsere europäischen Grundwerte verstoßen“. Und weiter: “Wer mit anderen Staaten einen Vertrag schließt, der beschränkt seine Souveränität. Nationale Souveränität als solche begründet keine Ausnahme von einer vertraglichen Verpflichtung. Man kann nicht einen Vertrag schließen und hinterher sagen: Nein, so habe ich es nicht gemeint.“ Es sei die souveräne Entscheidung eines Landes, der EU beizutreten oder sie zu verlassen. “Aber wenn ein Mitgliedstaat dieses souveräne Recht ausgeübt hat, dann folgen daraus Rechte und Pflichten.“
Rechtsstaatlichkeit lässt Raum für Vielfalt
Lenaerts betonte mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit zudem, dass diese einen Kernbereich definiere und “im größtmöglichen Maß Raum für Vielfalt“ lasse. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ergäbe sich etwa, dass die EU-Staaten viel Gestaltungsfreiheit hätten, wie sie die Unabhängigkeit der Gerichte sicherstellen.