Polen, Ungarn und Tschechien kamen Beschlüssen zur Flüchtlingsumverteilung nicht oder kaum nach
Im September 2015 erließ der Rat in Anbetracht der Ankunft von drittstaatsangehörigen Flüchtlingen in Griechenland und Italien zwei Umsiedlungsbeschlüsse, wonach 40.000 beziehungsweise 120.000 Flüchtlinge auf freiwilliger beziehungsweise verpflichtender Basis aus Griechenland und Italien in die anderen EU-Staaten umgesiedelt werden sollten. In Anwendung dieser Beschlüsse hatte Polen im Dezember 2015 angegeben, dass 100 Personen schnell in sein Hoheitsgebiet umgesiedelt werden könnten. Es nahm diese Umsiedlungen jedoch nicht vor und erteilte danach keine weitere Umsiedlungszusage mehr. Ungarn wiederum gab zu keinem Zeitpunkt eine Zahl von Personen an, die in Anwendung des für Ungarn verbindlichen Umsiedlungsbeschlusses in sein Hoheitsgebiet hätten umgesiedelt werden können, und nahm keinerlei Umsiedlungen vor. Im Februar und Mai 2016 gab die Tschechische Republik schließlich in Anwendung der Umsiedlungsbeschlüsse eine Zahl von 50 Personen an, die in ihr Hoheitsgebiet umgesiedelt werden könnten. Zwölf Personen wurden tatsächlich aus Griechenland umgesiedelt, jedoch erteilte die Tschechische Republik danach keine weitere Umsiedlungszusage mehr.
EuGH: Klage auch nach Auslaufen der Umsiedlungsbeschlüsse zulässig
Der EuGH hat zunächst festgestellt, dass die Klage entgegen dem Vorbringen Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik zulässig ist. Dem stehe nicht entgegen, dass es den drei EU-Staaten nach Ablauf der Geltungsdauer der Umsiedlungsbeschlüsse nicht mehr möglich sei, den behaupteten Vertragsverletzungen abzuhelfen. Eine Vertragsverletzungsklage sei auch nach Ablauf der Geltungsdauer des Unionsrechtsaktes zulässig, wenn sich die Kommission darauf beschränke, die Feststellung des Vorliegens der behaupteten Vertragsverletzung zu beantragen. Zudem bestehe an der Feststellung einer Vertragsverletzung unter anderem deshalb weiterhin ein sachliches Interesse, weil diese die Grundlage für eine Haftung abgeben könne, die möglicherweise einen Mitgliedstaat als Folge seiner Pflichtverletzung gegenüber anderen Mitgliedstaaten, der Union oder Einzelnen treffe.
Zu Unrecht nach Art. 72 AEUV auf nationale Zuständigkeiten berufen
Laut EuGH ließen die drei EU-Staaten zu Unrecht die Umsiedlungsbeschlüsse gemäß Art. 72 AEUV unter Berufung auf ihre Zuständigkeiten im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit unangewendet. Art. 72 AEUV sei als Ausnahmebestimmung zu den allgemeinen Regeln des Unionsrechts eng auszulegen. Erforderlich sei daher, dass die Mitgliedstaaten nachweisen, dass die Inanspruchnahme der in dieser Vorschrift vorgesehenen Ausnahme notwendig ist, damit sie ihre Zuständigkeiten in diesen Bereichen wahrnehmen können.
Staaten dürfen nationale Sicherheit und öffentliche Ordnung berücksichtigen
Weiter führt der EuGH aus, dass gemäß den Umsiedlungsbeschlüssen der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung während des gesamten Umsiedlungsverfahrens bis zum Abschluss der Überstellung der internationalen Schutz beantragenden Person Rechnung getragen werden sollte. Insoweit sei den zuständigen Behörden der Umsiedlungsmitgliedstaaten ein weites Ermessen zuzuerkennen, wenn sie bestimmen, ob berechtigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass ein Drittstaatsangehöriger, der umzusiedeln ist, eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung in ihrem Hoheitsgebiet darstellt.
Einzelfallprüfung und konkreter Verdacht erforderlich
Der Begriff "Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung“ im Sinn der Umsiedlungsbeschlüsse ist laut EuGH dahin auszulegen, dass er sowohl gegenwärtige als auch potentielle Bedrohungen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erfasst. Allerdings müssten die Behörden eine Einzelfallprüfung vornehmen und sich auf übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien für eine solche vom betreffenden Antragsteller ausgehende gegenwärtige oder potenzielle Gefahr stützen, um sich auf die vorgenannten Gründe berufen zu können. Aufgrund der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Regelung habe sich ein Mitgliedstaat im Rahmen des Umsiedlungsverfahrens nicht allein zu Zwecken der Generalprävention und ohne Nachweis eines unmittelbaren Zusammenhangs mit einem Einzelfall kategorisch auf Art. 72 AEUV berufen können, um eine Aussetzung oder gar eine Beendigung der Erfüllung seiner Verpflichtungen aus den Umsiedlungsbeschlüssen zu rechtfertigen.
Behauptetes Nichtfunktionieren des Umsiedlungsmechanismus kein Weigerungsgrund
Tschechien könne auch nicht mit seinem Vorbringen eines (angeblichen) Nichtfunktionierens des Umsiedlungsmechanismus durchdringen, so der EuGH weiter. Das den Umsiedlungsbeschlüssen inhärente Ziel der Solidarität sowie der verbindliche Charakter dieser Rechtsakte würden beeinträchtigt, ließe man es zu, dass sich ein Mitgliedstaat auf seine einseitige Beurteilung des behaupteten Mangels an Effektivität oder gar des angeblichen Nichtfunktionierens des durch diese Rechtsakte geschaffenen Umsiedlungsmechanismus stützen kann, um sich jeglicher Umsiedlungsverpflichtung aus diesen Rechtsakten zu entziehen. Der EuGH weist zudem darauf hin, dass die Umsiedlungsbeschlüsse seit ihrem Erlass und während ihrer Geltungsdauer für die Tschechische Republik verbindlich gewesen seien und dieser Mitgliedstaat somit den durch diese Beschlüsse auferlegten Umsiedlungsverpflichtungen unabhängig von der Gewährung anderer Arten von Hilfen an Griechenland und Italien habe nachkommen müssen.
Ungarn und Polen halten Urteil für bedeutungslos
Ungarn hält die Verurteilung durch den EuGH für bedeutungslos. "Der Spruch hat keine weiteren Konsequenzen", erklärte Justizministerin Judit Varga am 02.04.2020. "Nachdem die Quotenbeschlüsse schon längst ihre Geltung verloren haben, ergibt sich für uns keine Verpflichtung, Asylbewerber aufzunehmen." Die Erklärung wurde von der staatlichen Nachrichtenagentur MTI verbreitet. Auch Polen sieht nach der Niederlage vor Gericht keine Auswirkungen auf die Praxis. Die 2015 gefassten EU-Beschlüsse zur Umverteilung seien im September 2017 ausgelaufen, ihre Umsetzung daher nicht mehr möglich, sagte Regierungssprecher Piotr Müller am 02.04.2020 der Nachrichtenagentur PAP. Polen habe die Aufnahme von Flüchtlingen seinerzeit abgelehnt, um die innere Sicherheit des Landes gegen unkontrollierte Migration zu verteidigen.