EuGH: Pharma-Vergleich zur Verzögerung einer Generika-Einführung kann wettbewerbswidrig sein

Eine Vereinbarung zur gütlichen Beilegung eines Rechtsstreits zwischen dem Inhaber eines Arzneimittelpatents und einem Generikahersteller, der Geldzahlungen für einen vorübergehenden Verzicht auf den Generika-Markteintritt vorsieht, kann gegen das EU-Wettbewerbsrecht verstoßen. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 30.01.2020 entschieden. Maßgeblich sei, ob sich die Zahlungen in Anbetracht ihres Umfangs nur mit dem geschäftlichen Interesse der Vertragsparteien an der Vermeidung von Leistungswettbewerb erklären lassen (Az.: C-307/18).

Streit um Generika-Einführung durch "Aufschubvereinbarung" beigelegt

GSK war Inhaberin eines Patents für den Wirkstoff des Antidepressivums Paroxetin sowie von Sekundärpatenten für bestimmte Verfahren zur Herstellung dieses Wirkstoffs. Als das Primärpatent 1999 auslief, erwogen mehrere Generikahersteller, mit generischem Paroxetin in den Markt des Vereinigten Königreichs einzutreten. Vor diesem Hintergrund erhob GSK gegen die Generikahersteller Klagen wegen Verletzung ihrer Patente. Diese wiederum fochten eines der Sekundärpatente von GSK an. Die Rechtsstreitigkeiten wurden schließlich durch Vereinbarungen, die GSK mit den betreffenden Generikaherstellern schloss, gütlich beigelegt. Die Generikahersteller erklärten sich gegen Zahlungen von GSK bereit, für einen bestimmten Zeitraum darauf zu verzichten, mit eigenen Generika in den Markt einzutreten (im Folgenden: streitige Vereinbarungen).

Britische Behörde: Vereinbarung wettbewerbswidrig

Die britische Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde stellte fest, dass die streitigen Vereinbarungen gegen das Kartellverbot verstießen und dass GSK mit den Vereinbarungen auch ihre beherrschende Stellung auf dem relevanten Markt missbraucht habe, weshalb gegen die beteiligten Unternehmen Geldbußen verhängt wurden. Dagegen wendeten sich die Unternehmen. Das angerufene britische Gericht für Wettbewerbssachen rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an.

EuGH: Generikahersteller muss Markteintritt können und wollen

Der EuGH weist zunächst darauf hin, dass eine Vereinbarung zwischen Unternehmen nur dann unter das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt, wenn sie den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts spürbar einschränkt. Dies setze voraus, dass die betreffenden Unternehmen zumindest potentielle Wettbewerber sind. Bei einem Generikahersteller, der zum Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarung noch nicht in den Markt eingetreten gewesen sei, müsse hierzu nachgewiesen werden, dass für ihn tatsächlich konkrete Möglichkeiten bestanden, in den Markt einzutreten. Insoweit sei im Einzelfall zu prüfen, ob der betreffende Generikahersteller in Anbetracht der von ihm getroffenen Vorbereitungsmaßnahmen fest entschlossen war, in den Markt einzutreten, und hierzu auch aus eigener Kraft in der Lage war, und ob unüberwindliche Marktzutrittsschranken bestanden. Patente stellten für sich genommen keine unüberwindlichen Marktzutrittsschranken dar, da sie angefochten werden können.

Zahlungsvereinbarungen zur Verzögerung des Generika-Markteintritts können Wettbewerb hinreichend beeinträchtigen

Die Einstufung als "bezweckte Wettbewerbsbeschränkung" setze die Feststellung voraus, dass die streitigen Vereinbarungen den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigen. Maßgeblich seien insoweit neben dem Inhalt der Vereinbarungen die mit ihnen verfolgten Ziele sowie der wirtschaftliche und der rechtliche Zusammenhang, in dem sie stünden. Da bei Arzneimitteln der Verkaufspreis nach dem Markteintritt von Generika erheblich sinke, sei davon auszugehen, dass Vereinbarungen wie die streitigen den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigen, wenn sich die vorgesehenen Wertübertragungen in Anbetracht ihres Umfangs nur mit dem geschäftlichen Interesse der Vertragsparteien an der Vermeidung von Leistungswettbewerb erklären lassen und sie somit für die Generikahersteller einen Anreiz darstellen, auf den Eintritt in den betreffenden Markt zu verzichten.

Wettbewerbsfördernde Auswirkungen zu berücksichtigen

Bei der Einstufung als bezweckte Wettbewerbsbeschränkung seien, sofern sie erwiesen seien, auch wettbewerbsfördernde Auswirkungen der fraglichen Vereinbarungen zu berücksichtigen. Sie seien aber allein im Rahmen der Prüfung der Frage zu berücksichtigen, ob die betreffende Vereinbarung den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigt. Es sei Sache des nationalen Gerichts, im Einzelfall zu prüfen, ob die festgestellten wettbewerbsfördernden Auswirkungen ausreichen, um begründete Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass die betreffende Vereinbarung den Wettbewerb hinreichend beeinträchtigt.

Hypothetisches Marktverhalten zu ermitteln

Anschließend behandelt der EuGH die Frage, ob Vereinbarungen zur gütlichen Beilegung eines Rechtsstreits wie die streitigen Vereinbarungen als "bewirkte Wettbewerbsbeschränkung" eingestuft werden können. Um festzustellen, ob die Vereinbarung potentielle oder tatsächliche Auswirkungen auf den Wettbewerb gehabt habe, sei zu prüfen, wie sich der Markt ohne die Absprachen wahrscheinlich verhalten hätte und welche Struktur er dann gehabt hätte, ohne dass ermittelt zu werden brauche, wie wahrscheinlich es gewesen sei, dass der Generikahersteller obsiegt oder einen den Wettbewerb weniger einschränkenden Vergleich schließt, führt der EuGH aus.

Hinreichend starke Generikahersteller in Produktmarkt einzubeziehen

Zum Begriff des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung hat der EuGH festgestellt, dass bei einem Arzneimittel, dessen Herstellungsverfahren nach wie vor durch ein Patent geschützt seien, auch Generika in den Produktmarkt einzubeziehen seien, sofern die betreffenden Generikahersteller nachweislich in der Lage seien, mit hinreichender Stärke in den Markt einzutreten, um ein ernst zu nehmendes Gegengewicht zu dem bereits auf dem Markt vertretenen Originalpräparatehersteller bilden zu können.

Marktabschottung kann Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung sein

Weiter stellt der EuGH klar, dass die Feststellung des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) einen Eingriff in die Wettbewerbsstruktur des Markts voraussetze, der über die spezifischen Auswirkungen der einzelnen durch Art. 101 AEUV verbotenen Vereinbarungen hinausgehe. Da diese auch in ihrer Gesamtheit wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen haben könnten, könne ihr Abschluss, soweit er Teil einer entsprechenden Gesamtstrategie sei, auf dem Markt eine erhebliche abschottende Wirkung haben, indem den Verbrauchern die Vorteile des Markteintritts potentieller Wettbewerber, die ihr eigenes Arzneimittel herstellen, vorenthalten werden und der Markt mithin unmittelbar oder mittelbar dem Hersteller des Originalpräparts vorbehalten wird.

An Verbraucher weitergegebene Effizienzvorteile können Abschottung rechtfertigen

Schließlich weist der EuGH darauf hin, dass ein solches Verhalten gerechtfertigt sein könne, wenn das Unternehmen nachweist, dass dessen wettbewerbswidrige Auswirkungen durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen werden, die auch dem Verbraucher zugutekommen. Bei der entsprechenden Abwägung seien die wettbewerbsfördernden Auswirkungen des betreffenden Verhaltens ohne Rücksicht auf die mit diesem verfolgten Ziele zu berücksichtigen.

EuGH, Urteil vom 30.01.2020 - C-307/18

Redaktion beck-aktuell, 30. Januar 2020.