Ersuchen um Zustimmung für Abweichung vom Grundsatz der Spezialität bei Europäischem Haftbefehl
Im September 2017 wurde von einem belgischen Untersuchungsrichter ein Europäischer Haftbefehl (EHB) gegen einen Belgier ausgestellt, dem Urkundenfälschung, die Verwendung gefälschter Urkunden und Betrug vorgeworfen wurden. Nach der Festnahme des Gesuchten in den Niederlanden wurde dieser den belgischen Behörden übergeben. Im Januar 2018 erließ der Untersuchungsrichter, der den Haftbefehl ausgestellt hatte, wegen anderer Handlungen als derjenigen, die der Übergabe zugrunde lagen, einen ergänzenden EHB und ersuchte die zuständigen niederländischen Behörden um Zustimmung zu einer Abweichung vom Grundsatz der Spezialität, der im Rahmenbeschluss vorgesehen ist.
Niederländischer Staatsanwalt “vollstreckende Justizbehörde“ für europäischen Haftbefehl?
Nach diesem Grundsatz dürfen Personen, die in Vollstreckung eines EHB dem Ausstellungsmitgliedstaat übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden, es sei denn, die vollstreckende Justizbehörde hat ihre Zustimmung dazu gegeben. Im Februar 2018 erteilte der zuständige niederländische Staatsanwalt seine Zustimmung zur Erstreckung der Verfolgung auf die im ergänzenden EHB aufgeführten Taten. Der Täter wurde daraufhin in Belgien wegen der im ursprünglichen EHB und der im ergänzenden EHB aufgeführten Taten verfolgt und zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Das in der Sache befasste belgische Rechtmittelgericht wollte vom Gerichtshof wissen, ob der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam als “vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses über den EHB angesehen werden kann und infolgedessen befugt ist, die in diesem Rahmenbeschluss vorgesehene Zustimmung zu erteilen.
EuGH: Niederländische Staatsanwalt ist keine “vollstreckende Justizbehörde" bei EHB
Der Gerichtshof der Europäischen Union hat nun entschieden, dass der niederländische Staatsanwalt nicht als “vollstreckende Justizbehörde“ im Sinn des Rahmenbeschlusses über den EHB angesehen werden kann. Die Entscheidung über die Vollstreckung eines EHB müsse von einer unabhängigen Justizbehörde getroffen werden. Die Zustimmung zur Abweichung vom Grundsatz der Spezialität dürfe – unabhängig davon, ob sie von der gleichen Justizbehörde erteilt werden müsse wie der, die den EHB vollstreckt habe – nicht von einem Staatsanwalt eines Mitgliedstaats erteilt werden, der im Rahmen der Ausübung seiner Entscheidungsbefugnis eine Einzelweisung seitens der Exekutive erhalten könne. Ein solcher Staatsanwalt erfülle nicht die Voraussetzungen für eine Einstufung als "vollstreckende Justizbehörde".
Bereits erfolgte Übergabe des Häftlings ändert nichts
Die Entscheidung, die Zustimmung zu erteilen, sei eine von der Entscheidung zur Vollstreckung eines EHB gesonderte Entscheidung und entfalte für die betreffende Person gesonderte Wirkungen. Der Umstand, dass die betreffende Person bereits der ausstellenden Justizbehörde übergeben worden sei, ändere daran nichts. Die erbetene Zustimmung betreffe eine andere Handlung als diejenige, aufgrund deren die Person übergeben worden sei, und wäre deshalb geeignet, die Freiheit der betreffenden Person zu beeinträchtigen, da sie zu ihrer Verurteilung zu einer höheren Strafe führen könne.
Auch deutsche Staatsanwälte keine "vollstreckende Justizbehörde"
In Deutschland ist die Situation ähnlich. Der EuGH befand bereits im vergangenen Jahr, dass die deutschen Staatsanwaltschaften keine hinreichende Gewähr für Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive bieten, um zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls befugt zu sein.