DRB: Polen muss sein Rechtssystem wieder an Grundwerten der EU ausrichten
Die polnische Regierung müsse das Rechtssystem Polens danach endlich wieder an den Grundwerten der EU ausrichten, so DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn. Die Regierungspartei PiS versuche, die Unabhängigkeit der Justiz immer weiter zu untergraben. "Wer aber die staatliche Gewaltenteilung aushöhlt und sich vom Weg strikter Rechtsstaatlichkeit entfernt, stellt sich in der EU ins Abseits. Es ist wichtig, dass der EuGH das den Verantwortlichen in Warschau mit seinen Entscheidungen immer wieder klar und deutlich vor Augen führt", betont Rebehn.
Hintergrund: Polnischer Richter klagt wegen Versetzung
Im August 2018 war der Richter W.Ż. von der Abteilung des Sąd Okręgowy w K. (Regionalgericht K., Polen), in der er bis dahin tätig war, in eine andere Abteilung dieses Gerichts versetzt worden. Hiergegen legte er einen Rechtsbehelf beim polnischen Landesjustizrat KRS ein. Dieser stellte das Verfahren über den Rechtsbehelf ein. Gegen diese Entschließung legte W.Z. einen Rechtsbehelf beim Oberstes Gericht Polens (Sąd Najwyższy) ein. Parallel dazu beantragte W.Ż. die Ablehnung sämtlicher Richter des Sąd Najwyższy, die der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten dieses Gerichts angehörten, die grundsätzlich für die Entscheidung über diesen Rechtsbehelf zuständig war. W.Z. trug vor, dass die Mitglieder dieser Kammer wegen der Umstände ihrer Ernennung nicht die erforderliche Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit böten.
Kammer für außerordentliche Überprüfung ordnungsgemäß besetzt?
W.Z. machte unter anderem geltend, der Vorschlag für die Ernennung sämtlicher in der Kammer für außerordentliche Überprüfung tätigen und vom Ablehnungsantrag erfassten Personen zum Richter am Sąd Najwyższy sei in der Entschließung Nr. 331/2018 der KRS vom 28.08.2018 enthalten gewesen. Diese Entschließung sei in ihrer Gesamtheit mit einem Rechtsbehelf angefochten worden, den andere Teilnehmer am Ernennungsverfahren, die von der KRS nicht für die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy durch den Präsidenten der Republik Polen vorgeschlagen worden waren, beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) eingelegt hätten. Ungeachtet dieses Rechtsbehelfs und der vom Obersten Verwaltungsgericht angeordneten Aussetzung der Vollziehung dieser Entschließung habe der Präsident der Republik einige der in dieser Entschließung vorgeschlagenen Bewerber (unter anderem A.S.) zu Richtern der Kammer für außerordentliche Überprüfung ernannt.
Rechtsbehelf ohne Kenntnis der Akte und Anhörung zurückgewiesen
Am 08.03.2019, kurz vor Beginn der mündlichen Verhandlung der Zivilkammer des Sąd Najwyższy, die über den Ablehnungsantrag zu entscheiden hatte, erließ A.S. als Einzelrichter der Kammer für außerordentliche Überprüfung, ohne über die Akte zu verfügen und ohne W.Ż. anzuhören, einen Beschluss, mit dem er den Rechtsbehelf von W.Ż. als unzulässig zurückwies. Vor diesem Hintergrund hat die Zivilkammer des Sąd Najwyższy den EuGH um Vorabentscheidung ersucht.
EuGH betont Grundsatz wirksamen gerichtlichen Schutzes
Der EuGH weist zunächst darauf hin, dass der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts sei, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt, der in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist.
Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit gilt auch polnisches Regionalgericht
Sodann stellt der EuGH fest, dass ein polnisches Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit wie ein Sąd Okręgowy (Regionalgericht), dem W.Ż. als Richter angehört, zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts berufen sein kann und daher als "Gericht" im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems in den "vom Unionsrecht erfassten Bereichen" im Sinne des EU-Vertrags ist. Um zu gewährleisten, dass ein solches Gericht in der Lage ist, den erforderlichen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, sei die Wahrung seiner Unabhängigkeit von grundlegender Bedeutung, heißt es in der EuGH-Entscheidung weiter.
Nicht einvernehmliche Versetzung kann richterliche Unabhängigkeit verletzen
Die EuGH-Richter stellen weiter fest, dass nicht einvernehmliche Versetzungen von Richtern an andere Gerichte oder zwischen zwei Abteilungen desselben Gerichts danach potenziell die Grundsätze der Unabsetzbarkeit von Richtern und der richterlichen Unabhängigkeit verletzen können. Solche Versetzungen könnten nämlich ein Mittel zur Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen sein, da sie nicht nur den Umfang der Befugnisse der betreffenden Richter und die Bearbeitung der ihnen zugewiesenen Fälle beeinflussen können, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Laufbahn und damit entsprechende Wirkungen wie eine Disziplinarstrafe haben könnten.
Nicht einvernehmliche Versetzung nur aus berechtigtem Grund
In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass die für nicht einvernehmliche Versetzungen von Richtern geltende Regelung – ebenso wie eine Disziplinarordnung – nach dem Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit insbesondere die erforderlichen Garantien aufweisen müsse, damit jegliche Gefahr vermieden werde, dass diese Unabhängigkeit durch unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen von außen beeinträchtigt wird. Deshalb sei es wesentlich, dass solche nicht einvernehmlichen Versetzungsmaßnahmen, selbst wenn sie – wie im Kontext des Ausgangsverfahrens – vom Präsidenten des Gerichts, dem der von ihnen betroffene Richter angehört, außerhalb des Rahmens der Disziplinarordnung für Richter getroffen werden, nur aus berechtigten Gründen beschlossen werden dürfen. Diese lägen danach insbesondere in der Verteilung der verfügbaren Ressourcen, um eine ordnungsgemäße Rechtspflege gewährleisten zu können. Ebenso sei wesentlich, so der EuGH, dass solche Entscheidungen vor den Gerichten nach einem Verfahren angefochten werden können, das die in der Charta verankerten Rechte, insbesondere die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang gewährleistet.
EuGH hält Ernennung des A.S. für bedenklich
Zur Frage, ob A.S. in Anbetracht der Umstände, unter denen seine Ernennung erfolgt ist, als ein "unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne des Unionsrechts" anzusehen ist, stellt der EuGH fest, dass zum einen die Umstände – vorbehaltlich der insoweit vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden abschließenden Würdigung – den Schluss zuließen, dass die Ernennung des betreffenden Richters unter offensichtlicher Missachtung der Grundregeln des Verfahrens für die Ernennung von Richtern am Sąd Najwyższy erfolgt sei, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit des polnischen Justizsystems sind. Unter demselben Vorbehalt könne das vorlegende Gericht zum anderen aus all diesen Umständen auch den Schluss ziehen, dass die Bedingungen, unter denen die Ernennung des betreffenden Richters erfolgt sei, die Integrität des Ergebnisses dieses Ernennungsverfahrens beeinträchtigt haben.
A.S. gegebenenfalls an Entscheidung über Versetzung zu hindern
Der EuGH weist darauf hin, dass, wenn das vorlegende Gericht zu solchen Ergebnissen komme, davon auszugehen sei, dass die Umstände, unter denen die Ernennung des betreffenden Richters A.S. erfolgt ist, im vorliegenden Fall geeignet waren, auszuschließen, dass er in der Besetzung als Einzelrichter ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht darstellen konnte. In diesem Fall sei er daran zu hindern, in dieser Besetzung über eine nicht einvernehmliche Versetzung eines Richters zu entscheiden, der wie W.Ż. mit der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts befasst werden könne.
Beschluss gegebenenfalls als nicht existent anzusehen
Die Luxemburger Richter stellen zuletzt klar, dass der Beschluss, mit dem ein letztinstanzlich und als Einzelrichter entscheidender Spruchkörper den Rechtsbehelf eines Richters zurückgewiesen hat, der gegen seinen Willen versetzt wurde, als nicht existent anzusehen ist, wenn die Ernennung dieses Einzelrichters unter offensichtlicher Verletzung der Grundregeln erfolgt ist, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit des betroffenen Justizsystems sind. Das festzustellen sei Aufgabe des vorlegenden Gerichts.