EuGH-Generalanwalt: Neue Disziplinarkammer des polnischen Obersten Gerichts erfüllt Anforderungen an richterliche Unabhängigkeit nicht

Die neu geschaffene Disziplinarkammer des polnischen Obersten Gerichts genügt nicht den Anforderungen des Unionsrechts an die richterliche Unabhängigkeit. Zu diesem Ergebnis kommt der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof Evgeni Tanchev in seinen Schlussanträgen vom 27.06.2019 (Az.: C-585/18, C-624/18 und C-625/18). Als hinderlich für die richterliche Unabhängigkeit bewertete Tanchev die Rolle der Legislative bei der Wahl der 15 richterlichen Mitglieder des Landesjustizrats und dessen Rolle bei der Auswahl von Richtern, die der Präsident der Republik Polen zu Richtern der Disziplinarkammer am Obersten Gericht ernennen kann.

Hintergrund: Umstellung des polnischen Justizsystems

Im Jahr 2017 nahm Polen eine umfassende Reform seines Justizsystems vor. Insbesondere wurde das Ruhestandsalter für Richter des Obersten Gerichts auf 65 Jahre herabgesetzt, es sei denn, sie erklären innerhalb der vorgesehenen Frist, ihr Amt weiter ausüben zu wollen, legten eine Bescheinigung über ihren Gesundheitszustand vor und der Präsident der Republik Polen stimmte der weiteren Ausübung ihres Amtes zu. Bevor der Präsident der Republik seine Zustimmung erteilt, muss er jeweils den Landesjustizrat konsultieren, der ihm eine Stellungnahme vorlegt. Diese Maßnahmen hatte der EuGH mit Urteil vom 24.06.2019 für unvereinbar mit dem Unionsrecht erklärt (BeckRS 2019, 12030).

Oberstes Gericht zweifelt an richterlicher Unabhängigkeit der Disziplinarkammer

In diesem Kontext erhoben Richter, die von den polnischen Maßnahmen zur Absenkung ihres Ruhestandsalters betroffen waren, bei der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen des Obersten Gerichts Klagen, die sich zum Teil auf Unionsrecht stützen. Nach polnischem Recht ist die neu geschaffene Disziplinarkammer des Obersten Gerichts für solche Klagen zuständig. Das Oberste Gericht wirft aber die Frage auf, ob die Disziplinarkammer hinreichende Garantien für die Unabhängigkeit im Sinn des Unionsrechts bietet, um über solche Klagen entscheiden zu können. Es tut dies, weil die Personen, die vom Präsidenten der Republik zu Mitgliedern der Disziplinarkammer ernannt werden können, vom Landesjustizrat ausgewählt werden, der in Polen die richterliche Unabhängigkeit gewährleisten soll. Aufgrund von polnischen Rechtsvorschriften, mit denen die Modalitäten für die Ernennung der richterlichen Mitglieder des Landesjustizrats geändert wurden, sind jedoch Zweifel entstanden, ob dieses Gremium seinerseits unabhängig ist. Über seine Zusammensetzung entscheiden nunmehr in erster Linie die Legislative und die Exekutive. Das polnische Oberste Gericht hat daher den Gerichtshof angerufen.

Beschleunigtes Verfahren

Mit Beschluss vom 26.11.2018 hat der Präsident des Gerichtshofs den Anträgen des Obersten Gerichts entsprochen, die vorliegenden Rechtssachen dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. 

Anforderungen an Justizräte

Der Generalanwalt führt aus, dass Justizräte und ähnliche Einrichtungen in vielen, wenngleich nicht in allen Mitgliedstaaten eine wesentliche Rolle bei der Gewährleistung der Unabhängigkeit und Autonomie der Justiz spielen. Auch wenn es kein einheitliches Modell für Justizräte gebe, würden ihnen einige gemeinsame Merkmale in Bezug auf ihre Aufgabe, die richterliche Unabhängigkeit zu gewährleisten, und ihr Tätigwerden zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte im Rahmen der Justizsysteme ihrer jeweiligen Rechtsordnungen zugeschrieben. So bestehe die Aufgabe von Justizräten erstens darin, die Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern zu gewährleisten. Dies bedeute, dass sie frei von jeder Einflussnahme durch die Legislative und die Exekutive sein müssten. Es gebe zweitens kein einheitliches Modell, dem eine Rechtsordnung bei der Einrichtung eines Justizrats folgen müsse, solange seine Zusammensetzung seine Unabhängigkeit gewährleiste und es ihm ermögliche, effektiv zu arbeiten. Insbesondere müssten Justizräte, um Manipulationen oder unangemessenen Druck zu verhindern, grundsätzlich zumindest mehrheitlich mit Richtern besetzt werden, die von der Richterschaft gewählt würden. Das Auswahlverfahren müsse in objektiver und transparenter Weise durchgeführt werden, und auf allen Ebenen müsse gewährleistet sein, dass die Judikative breit vertreten sei, während einer Mitwirkung der Legislative und der Exekutive am Auswahlverfahren entgegengewirkt werden müsse. Drittens dürften zur Gewährleistung der Kontinuität der Aufgaben die Mandate der Mitglieder der Justizräte nicht gleichzeitig auslaufen oder im Anschluss an Parlamentswahlen verlängert werden. Zu den weithin anerkannten Funktionen von Justizräten gehörten viertens die Auswahl, Ernennung und/oder Beförderung von Richtern; die Verfahren müssten dabei von Justizräten durchgeführt werden, die von der Legislative und der Exekutive unabhängig seien.

Disziplinarkammer des Obersten Gerichts nicht frei von Einflussnahme durch Legislative und Exekutive

Nach Auffassung des Generalanwalts erfüllt die Disziplinarkammer des polnischen Obersten Gerichts die Anforderungen des Unionsrechts an die richterliche Unabhängigkeit nicht. Insbesondere müsse der Landesjustizrat als Einrichtung, deren Aufgabe darin bestehe, die Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern im Rahmen der polnischen Verfassung sicherzustellen, und zu deren Funktionen die Auswahl der vom Präsidenten der Republik zu ernennenden Richter gehöre, frei von einer Einflussnahme durch die Legislative und die Exekutive sein, um ordnungsgemäß tätig werden zu können. Die Art und Weise, wie die Mitglieder des Landesjustizrats ernannt würden, weise jedoch Mängel auf, die es wahrscheinlich erschienen ließen, dass seine Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive beeinträchtigt sei.

Einflussnahme des Sejm nicht auszuschließen

Der Generalanwalt stellt weiter fest, dass die Art und Weise der Ernennung der Mitglieder des Landesjustizrats mit einer Einflussnahme der Legislative auf den Landesjustizrat verbunden sei. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Sejm Bewerber ohne oder mit geringer Unterstützung der Richter auswähle, sodass dem Standpunkt der Richterschaft bei der Auswahl der Mitglieder des Landesjustizrats möglicherweise kein hinreichendes Gewicht zukomme. Unabhängig von den Zielen, die demokratische Legitimation und die Repräsentativität des Landesjustizrats zu erhöhen, sei diese Regelung geeignet, sich nachteilig auf seine Unabhängigkeit auszuwirken.

Unabhängigkeit des Landesjustizrats auch durch weitere Regelungen gefährdet

Zudem seien die Änderungen bei der Art und Weise der Ernennung richterlicher Mitglieder des Landesjustizrats gemäß den Änderungen des Gesetzes über den Landesjustizrat mit der frühzeitigen Beendigung der Amtszeit seiner bisherigen Mitglieder einhergegangen. Ungeachtet des angegebenen Ziels, die Amtszeit der Mitglieder des Landesjustizrats zu vereinheitlichen, sei davon auszugehen, dass die sofortige Ersetzung der Mitglieder des Landesjustizrats zusammen mit der Neuregelung für die Ernennung ihrer Nachfolger die Unabhängigkeit des Landesjustizrats von der Legislative und der Exekutive weiter schwäche. Aufgrund dessen bestünden im Licht der Rolle der Legislative bei der Wahl der 15 richterlichen Mitglieder des Landesjustizrats und von dessen Rolle bei der Auswahl von Richtern, die der Präsident der Republik ernennen könne, legitime Gründe für objektive Zweifel an der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer.

Generalanwalt weist auf weitere Aspekte hin

Der Generalanwalt weist ferner darauf hin, dass eine Reihe von Erwägungen in Bezug auf die Auswahl von Richtern für die Disziplinarkammer berücksichtigt werden sollte: Insbesondere würden bis zu dem Zeitpunkt, zu dem alle Stellen in der Disziplinarkammer erstmals besetzt worden seien, die Richter der Kammer vom Präsidenten der Republik ernannt, die Disziplinarkammer unterliege zu einem gewissen Grad Vorschriften, die sie von den übrigen Kammern des Obersten Gerichts unterschieden, die Regelungen für die Disziplinarkammer seien als Teil des gesetzgeberischen Maßnahmenpakets zur Reform des polnischen Justizsystems geschaffen worden, und die Disziplinarkammer habe über Fälle zu entscheiden, in denen es um den Eintritt in den Ruhestand von Richtern des Obersten Gerichts und um Disziplinarverfahren gegen Richter gehe, die von diesem Maßnahmenpaket betroffen seien.

Nationale Bestimmungen haben unangewendet zu bleiben

Außerdem ist Generalanwalt Tanchev der Ansicht, dass nationale Bestimmungen, die die Zuständigkeit für die Entscheidung über einen das Unionsrecht berührenden Rechtsstreit einer Kammer eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts zuwiesen, die den unionsrechtlichen Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit nicht genügten, unangewendet bleiben müssten. Um einen wirksamen Rechtsschutz für den Einzelnen nach dem Unionsrecht zu gewährleisten, müsse es einer anderen Kammer eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts möglich sein, nationale Bestimmungen, die mit diesem Grundsatz unvereinbar sind, von Amts wegen unangewendet zu lassen.

EuGH, Schlussanträge vom 27.06.2019 - C-585/18

Redaktion beck-aktuell, 27. Juni 2019.