Wie der EuGH am System der europäischen Produktsicherheit sägt
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In seiner Malamud-Entscheidung hat der EuGH europäische Produktsicherheitsnormen praktisch freigegeben. Damit könnte die unionsweite Arbeitsteilung erodieren, meint Thomas Klindt.

Wenn man die Begründung des EuGH in seiner Malamud-Entscheidung vom 5. März (C-588/21) liest, schießen einem unwillkürlich die 5 Phasen der Trauer von Kübler-Ross (1969) durch den Kopf: Erst leugnen, dann ärgern, dann feilschen, dann verzweifeln und möglicherweise ganz zum Schluss akzeptieren. Es ist müßig, mit rechtskräftigen Urteilen zu hadern, auch wenn ihre Begründung leider eine frappante Unkenntnis des europäischen Rechts offenbart. Nachjustieren lässt sich die Situation nur noch gesetzgeberisch, doch dazu muss sich nach der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni erst eine neue Europäische Kommission finden und strategisch sortieren.

Was ist passiert? Rein technisch hat der EuGH ein Urteil des EuG aufgehoben, und er hat damit zugleich einen vom EuG noch bestätigten Beschluss der Kommission für nichtig erklärt. Dieser Kommissionsbeschluss betraf die Weigerung, dem Internet-Aktivisten Carl Malamud (daher der Name des Urteils) und seinen NGOs bestimmte harmonisierte europäische Normen aus dem Spielzeugrecht kostenfrei zu überlassen. Gestützt hatte sich Malamud unter anderem auf die Transparenz-Verordnung 1049/2001, die EU-Bürgern ursprünglich vor allem Zugang zu Gesetzgebungsdokumenten ermöglichen sollte. 

Den Anwendungsbereich der Verordnung erstreckte er auf harmonisierte technische Normen, die Rechtswirkung auslösen und deshalb nach seiner Ansicht strukturell Recht sind. Er konnte sich dabei auf die ohnehin unselige James Elliott-Entscheidung des EuGH aus 2016 berufen. Dort hat sich nolens volens und ohne jede Begründung die Formulierung "Technische Normen sind Teil des Unionsrechts" gefunden. Überzeugend war das schon damals nicht.

Schlanke Produktvorgaben nach dem "New Approach"

Europäisch harmonisierte Normen sind ein fester Bestandteil des europäischen Rechts seit Kommissionspräsident Jacques Delors und dem 1985 etablierten "New Approach". Dessen DNA besteht im Wesentlichen aus einer Reduzierung europäischer Produktregulierungen auf das Nötigste, nämlich die Formulierung von Zielvorgaben, die die Industrie einhalten muss. Technische Designvorgaben werden nicht im Einzelnen reguliert, also: keine Spaltmaße, keine Abstandsgrößen, keine Drehmomente, keine Bauhöhen, nichts Detailliertes aus der Feder des Gesetzgebers. Formuliert werden ausschließlich regulativ bindende Ziele wie "absturzsicher" oder "ungefährlich".

Gleichwohl gibt die Union den Unternehmen durch Normungsorganisationen Vorschläge an die Hand, wie die generell formulierten Ziele beispielhaft eingehalten werden können. Diese Normen sind nicht zwingend, aber: Wer sich daran hält, zu dessen Gunsten wird vermutet, dass der Inverkehrbringer auch den Zielen der Produktsicherheit genügt. Die Norm-Compliance lässt die Rechts-Compliance vermuten! Das war insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen eine bahnbrechende Erleichterung für einen erfolgreichen europaweiten Vertrieb. Denn die vermutete Compliance mit dem europäischen Recht erlaubt einen margenstarken und schnell wachsenden Vertrieb von Irland bis Griechenland und von Portugal bis Schweden. 

EuGH sieht öffentliches Interesse an Zugang zu europäischen Normen

Diese Normen unterlagen allerdings dem Urheberrecht der nationalen Normungsorganisationen, waren also nicht frei verfügbar und mussten gegen Lizenzgebühr erworben werden. Nun steht die Sorge im Raum, dass sich dies mit dem Malamud-Urteil des EuGH gravierend geändert haben könnte. 

Zwar äußert sich der EuGH mit keiner Zeile zu der Frage, ob ein solches Urheberrecht besteht oder nicht. Er überholt die Argumentation des EuG vielmehr rechts und stellt fest, dass es in jedem Fall im Sinne der Transparenz-Verordnung ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit gebe, vom Inhalt dieser Normen Kenntnis zu erlangen. Das Urheberrecht mag also noch weiter existieren, ist aber naturgemäß wertlos, wenn es sich nicht verteidigen kann gegen einen kostenfreien Zugangsanspruch. Dieses überwiegende Interesse der Öffentlichkeit – und hier wird es juristisch einigermaßen gruselig – begründet der EuGH nun damit, dass sie Zugang zu den Normen benötige, um die Produktsicherheit ohne großen Aufwand und Kosten – etwa für Gutachten – zu kontrollieren.

Nach dem Grundsatz des freien Zugangs zum Unionsrecht müsse es jedem möglich sein, in den Grenzen des rechtlich Zulässigen zu überprüfen, ob Hersteller den Produktsicherheitspflichten tatsächlich nachkommen. Eine harmonisierte Norm erlaube es dem Einzelnen, zu prüfen, ob ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung die Anforderungen erfülle, meint der EuGH. Jeder, der die gesetzliche Vermutung der Produktsicherheit in Bezug auf ein bestimmtes Produkt anfechten wolle, müsse nachweisen können, dass es die Norm nicht erfülle.

Daran ist alles falsch.

Und es ist bedauerlich, dass dies einen zentralen Stützpfeiler der gesamten Argumentation bildet. Denn harmonisierte technische Normen haben einen wichtigen, dennoch beschränkten Anwendungsbereich: Sie gelten beweisrechtlich privilegiert ausschließlich gegenüber nationalen Marktüberwachungsbehörden, und zwar in deren Vollzug des europäischen Produktrechts. Irgendeine bindungsähnliche Wirkung gegenüber Zivilgerichten, Staatsanwaltschaften, Kommunalbehörden oder Berufsgenossenschaften haben europäisch harmonisierte Normen nicht. Null. De nada. Rien. Schon erst recht gibt es keine Rechtswirkung gegenüber zivilen Bürgern, Vereinen, Verbänden oder Wettbewerbern - es ist ein komplettes Rätsel, wer dies (Rn. 76) "anfechten" oder (Rn. 82) "prüfen" wollen soll.

EuGH-Entscheidung schwächt europäische Normung vor wichtigen Jahren

Normen sind auch nicht de facto bindend, wie es schon im gleichermaßen problematischen Schlussantrag der Generalanwältin stand. Ganz im Gegenteil: Das EuG hat nur wenige Monate vor dieser Entscheidung just einen solchen Fall entschieden, in dem trotz Nichteinhaltung einer technischen Norm die Einhaltung des geltenden Rechts bestätigt wurde. Der EuGH hätte nur in diese Entscheidung schauen müssen, um zu sehen, wie alltäglich es ist, dass die Industrie auch anders als normkonform produziert. 

Mit dem Urteil ist nun allerdings das Kind in einen großen Brunnen gefallen. Die Folgen sind noch gar nicht absehbar, weil der Kläger Malamud bereits über seine Anwälte angekündigt hat, mit gleicher Begründung auch eine Vielzahl anderer Normen kostenfrei anfordern zu wollen. Wenn aber das Konzept der Lizenzgebühr (entschädigungslos?) unterminiert wird, stellt sich die Frage, wie eigentlich die alltägliche Normungsarbeit refinanziert werden soll. 

Die nicht-staatlichen Organisationen, welche die Normen erarbeiten, sind auf eine finanzielle Kompensation angewiesen. Ohne diese wird es schwierig, zukünftige Normungsarbeit zu ermöglichen. Dabei wäre sie nie wichtiger als in den nächsten Jahren, wo es um wichtige Normsetzung etwa im Bereich KI, Cybersicherheit, Gentechnik und Weltraumindustrien geht. Die europäische Normungsstrategie der Kommission von 2022 wollte ein Zeichen für eine starke Normung setzen; der EuGH hat sie nun massiv geschwächt. Eine der gravierendsten Folgen könnte sein, dass internationale Normungsorganisationen wie ISO und IEC ihre erarbeiteten Normungsinhalte nicht mehr der europäischen Normung als Basis zur Verfügung stellen werden, weil über den Umweg der Malamud-Entscheidung so ja auch ISO und IEC ihre lizenzrechtlichen Urheberschutzmöglichkeiten möglicherweise erodiert sehen.


Der Gastautor Prof. Dr. Thomas Klindt ist Partner bei Noerr und Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Er lehrt zudem Europäisches Produkt- und Technikrecht an der Universität Bayreuth.

EuGH, Urteil vom 05.03.2024 - C-588/21

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Thomas Klindt, 19. März 2024.