Lkw-Fahrer im grenzüberschreitenden Güterverkehr können "entsandte" Arbeitnehmer sein

Lkw-Fahrer, die im Rahmen von Charterverträgen im grenzüberschreitenden Güterverkehr eingesetzt werden, können "entsandte" Arbeitnehmer im Sinn der Schutz vor Sozial- und Lohndumping bezweckenden Entsenderichtlinie sein. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 01.12.2020 entschieden. Die Richtlinie sei auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar.

Fernfahrer im Rahmen von Charterverträgen grenzüberschreitend eingesetzt

Arbeitnehmer aus Deutschland und Ungarn waren im Rahmen von Charterverträgen als Fahrer im grenzüberschreitenden Güterverkehr tätig. Die Charterverträge waren zwischen drei derselben Unternehmensgruppe angehörenden Transportunternehmen geschlossen worden: Van den Bosch Transporten BV (Niederlande), Van den Bosch Transporte (Deutschland) und Silo-Tank (Ungarn). An die letzteren beiden waren die Fahrer arbeitsvertraglich gebunden. Die Vercharterung fand in der Regel ab Erp statt und die Fahrten endeten dort auch. Die meisten auf der Grundlage der Charterverträge durchgeführten Beförderungen fanden jedoch außerhalb der Niederlande statt.

Niederländischer Tariflohn für Fahrer aus Deutschland und Ungarn gefordert

Nach Ansicht des niederländischen Gewerkschaftsbundes hätte Van den Bosch Transporten bei der Einschaltung von Fahrern aus Deutschland und Ungarn auf diese in ihrer Eigenschaft als entsandte Arbeitnehmer im Sinn der Entsenderichtlinie die grundlegenden Arbeitsbedingungen des (niederländischen) Tarifvertrags für den Güterverkehr anwenden müssen. Er verklagte die drei Güterkraftverkehrsunternehmen deshalb. Im ersten Rechtszug erging ein stattgebendes Zwischenurteil. Dieses Urteil wurde jedoch im Berufungsverfahren aufgehoben.

Fahrer in die Niederlande entsandt?

Das Berufungsgericht war unter anderem der Auffassung, dass die Vercharterungen nicht in den Anwendungsbereich der Entsenderichtlinie fallen, da sich diese Richtlinie nur auf Vercharterungen beziehe, die zumindest hauptsächlich "im Hoheitsgebiet" eines anderen Mitgliedstaats erfolgen. Dagegen legte der Gewerkschaftsbund Kassationsbeschwerde ein. Der Oberste Gerichtshof der Niederlande rief den EuGH zu den Voraussetzungen an, unter denen auf das Vorliegen einer Entsendung von Arbeitnehmern "in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats" im internationalen Straßenverkehrssektor geschlossen werden kann.

EuGH: Entsenderichtlinie im Straßenverkehrssektor anwendbar

Der EuGH weist zunächst darauf hin, dass die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist. Denn diese Richtlinie gelte grundsätzlich für jede länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen, die mit einer Entsendung von Arbeitnehmern verbunden sei, unabhängig vom betroffenen Wirtschaftssektor. Dass die Rechtsgrundlage dieser Richtlinie keine Bestimmungen über den Verkehr umfasse, begründe keinen Ausschluss vom Anwendungsbereich der Richtlinie die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor, insbesondere im Güterkraftverkehrssektor.

Hinreichender Bezug zu Einsatzland erforderlich

Für die Einstufung der betroffenen Fahrer als "in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsandt[en]" Arbeitnehmers müsse die Arbeitsleistung aber einen hinreichenden Bezug zu diesem EU-Staat haben. Ob eine solche Verbindung vorliege, sei im Rahmen einer Gesamtwürdigung zu beurteilen. Maßgebliche Aspekte seien dabei unter anderem die Art der von dem betreffenden Arbeitnehmer in diesem Hoheitsgebiet verrichteten Tätigkeiten, die Enge der Verbindung der Tätigkeiten dieses Arbeitnehmers zu dem Hoheitsgebiet eines jeden Mitgliedstaats, in dem er tätig sei, und der Anteil, den diese Tätigkeiten dort an der gesamten Beförderungsleistung ausmachten.

Unzureichende Verbindungsaspekte

Dass ein Fernfahrer, der von einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat überlassen worden sei, am Sitz dieses zweiten Unternehmens die mit seinen Aufgaben zusammenhängenden Anweisungen erhalte, die Ausführung dieser Aufgaben dort beginne oder beende, reiche insbesondere für sich genommen nicht für die Annahme eines entsandten Arbeitnehmers aus, wenn die Arbeitsleistung dieses Fahrers aufgrund anderer Faktoren keine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist. Der EuGH stellt zudem klar, dass das Bestehen eines Konzernverbunds zwischen den Unternehmen, die Parteien des Vertrags über die Überlassung von Arbeitnehmern seien, für die Beurteilung, ob eine Entsendung von Arbeitnehmern vorliege, irrelevant sei. Denn dies sage als solches nichts darüber aus, wie eng die Verbindung der Arbeitsleistung zu dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sei.

Bei Kabotagebeförderungen hinreichende Verbindung gegeben

Anschließend geht der EuGH auf den Sonderfall der Kabotagebeförderungen ein. Für diese gelte, wie die Verordnung (EG) Nr. 1072/2009 über den grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr betont, die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern. Der EuGH führt dazu aus, dass diese Beförderungen vollständig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats stattfänden. Dies lasse die Annahme zu, dass die Arbeitsleistung des Fahrers im Rahmen solcher Beförderungen eine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist. Die Dauer der Kabotagebeförderung sei für die Beurteilung des Vorliegens einer solchen Entsendung unerheblich, unbeschadet der den Mitgliedstaaten nach dieser Richtlinie zur Verfügung stehenden Möglichkeit, bestimmte Vorschriften der Richtlinie, insbesondere in Bezug auf die Mindestlohnsätze, nicht anzuwenden, wenn die Dauer der Entsendung einen Monat nicht übersteigt.

Begriff des für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrags

Schließlich weist der EuGH darauf hin, dass die Mitgliedstaaten im Fall einer Entsendung von Arbeitnehmern nach dieser Richtlinie dafür sorgen müssten, dass die betreffenden Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern eine Reihe von Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die unter anderem in für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen festgelegt seien. Ob ein Tarifvertrag für allgemein verbindlich erklärt worden sei, sei anhand des anwendbaren nationalen Rechts zu beurteilen. Allerdings falle unter diesen Begriff auch ein Tarifvertrag, der nicht für allgemein verbindlich erklärt worden sei, aber dessen Einhaltung für die ihm unterliegenden Unternehmen die Voraussetzung für die Befreiung von der Anwendung eines anderen, seinerseits für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrags darstelle, dessen Bestimmungen im Wesentlichen mit jenen dieses anderen Tarifvertrags identisch seien, so der EuGH.

EuGH, Urteil vom 01.12.2020 - C-815/18

Redaktion beck-aktuell, 1. Dezember 2020.