EuGH: Liberalisierungsabkommen zwischen EU und Marokko nicht auf Westsahara anwendbar

Das 2012 zwischen der Europäischen Union und Marokko geschlossene Liberalisierungsabkommen findet auf die Westsahara keine Anwendung. Dies hat der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 21.12.2016 entschieden. Das anderslautende Urteil des Gerichts der Europäischen Union hat er aufgehoben und die Klage des Front Polisario, einer von den Vereinten Nationen anerkannten Bewegung, die die Unabhängigkeit der Westsahara anstrebt, mangels Klagebefugnis abgewiesen (Az.: C-104/16 P).

Assoziierungs- und Liberalisierungsabkommen zwischen EU und Marokko

Die Westsahara ist ein Gebiet im Nordwesten Afrikas, das im Norden an Marokko, im Nordosten an Algerien, im Osten und Süden an Mauretanien und im Westen an den Atlantik grenzt. Der größte Teil dieses Gebietes wird derzeit von Marokko kontrolliert, ein kleinerer Teil im Osten vom Front Polisario, einer von der Organisation der Vereinten Nationen anerkannten Bewegung, die die Unabhängigkeit der Westsahara anstrebt. Die EU und Marokko schlossen 2012 ein Abkommen mit Maßnahmen zur gegenseitigen Liberalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, landwirtschaftlichen Verarbeitungserzeugnissen, Fisch und Fischereierzeugnissen (Liberalisierungsabkommen), dessen räumlicher Geltungsbereich sich mit dem des Assoziierungsabkommens EU-Marokko deckt. Es wurde von der EU durch einen Beschluss des Rates genehmigt.

EuG erklärt Ratsbeschluss zur Genehmigung des Liberalisierungsabkommens für nichtig

Der Front Polisario erhob beim EuG Klage auf Nichtigerklärung dieses Beschlusses. Das Gericht gab dieser Klage statt. Das Assoziations- und das Liberalisierungsabkommen gölten "für das Gebiet des Königreichs Marokko". Mangels anderslautender Bestimmungen sei dieser Ausdruck dahin auszulegen, dass er die Westsahara umfasse. Da die Abkommen auf die Westsahara angewandt würden, sei der Front Polisario durch den Beschluss des Rates betroffen und somit befugt, dessen Nichtigerklärung zu beantragen. Der Rat habe seine Verpflichtung verletzt, vor dem Abschluss des Liberalisierungsabkommens zu prüfen, ob es keine Anzeichen dafür gebe, dass die Nutzung der natürlichen Ressourcen des von Marokko kontrollierten Gebiets der Westsahara zum Nachteil ihrer Bewohner erfolgen und deren Grundrechte verletzen könnte. Der Rat legte ein Rechtsmittel ein und beantragte die Aufhebung des Urteils.

EuGH: Sonderstatus der Westsahara hätte bei Bestimmung des räumlichen Geltungsbereichs berücksichtigt werden müssen

Der EuGH hat dem Rechtsmittel stattgegeben und das Urteil des Gerichts aufgehoben. Das EuG habe bei der Bestimmung des räumlichen Geltungsbereichs des Liberalisierungsabkommens, in dem an keiner Stelle von der Westsahara die Rede sei, nicht sämtliche Völkerrechtssätze berücksichtigt, die in den Beziehungen zwischen der EU und Marokko anwendbar seien. Dies wäre nach dem Wiener Übereinkommen von 1969 über das Recht der Verträge aber geboten gewesen. Der Ausdruck "Gebiet des Königreichs Marokko", mit dem der räumliche Geltungsbereich des Assoziations- und des Liberalisierungsabkommens definiert werde, könne wegen des der Westsahara durch die Charta der Vereinten Nationen eingeräumten gesonderten und unterschiedlichen Status und des Grundsatzes der Selbstbestimmung der Völker nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Westsahara umfasst und die Abkommen somit auf dieses Gebiet Anwendung finden. Das Gericht habe aus dem Status, über den die Westsahara nach dem Völkerrecht verfüge, also nicht die Konsequenzen gezogen.

Geltung für Westsahara nicht ausdrücklich vorgesehen

Laut EuGH ist es zudem internationale Praxis, dass ein Vertrag, wenn er nicht nur für das Hoheitsgebiet eines Staates, sondern auch darüber hinaus – etwa für ein der Hoheitsgewalt unterstehendes Hoheitsgebiet oder für ein Hoheitsgebiet, für dessen internationale Beziehungen der betreffende Staat verantwortlich sei – gelten solle, dies ausdrücklich vorsehe. Auch damit wäre es nicht vereinbar, das Assoziations- und das Liberalisierungsabkommen für auf die Westsahara anwendbar zu erklären.

Volk der Westsahara hätte als "Dritter" zustimmen müssen

Schließlich weist der EuGH auf den Grundsatz der relativen Wirkung von Verträgen hin, nach dem Verträge Dritten ohne deren Zustimmung weder schaden noch nützen dürften. Nach dem auf Antrag der Generalversammlung der Vereinten Nationen erstellten Gutachten des Internationalen Gerichtshofs über die Westsahara von 1975 sei das Volk der Westsahara als Dritter anzusehen, der durch die Durchführung des Liberalisierungsabkommens betroffen sein könne. Im vorliegenden Fall sei aber nicht ersichtlich, dass das Volk der Westsahara dessen Anwendung auf die Westsahara zugestimmt hätte.  

Keine Änderung des räumlichen Geltungsbereichs durch "de-facto"-Anwendung bestimmter Vorschriften 

Zur "de-facto"-Anwendung bestimmter Vorschriften des Assoziations- und des Liberalisierungsabkommens in bestimmten Fällen auf Erzeugnisse mit Ursprung in der Westsahara führt der EuGH aus, dass nicht erwiesen sei, dass diese Praxis auf einer Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Änderung der Auslegung des räumlichen Geltungsbereichs des Abkommens beruht. Hätte die EU eine solche Änderung beabsichtigt, hätte sie gleichzeitig eingestanden, dass sie die Abkommen in einer Weise durchführen wolle, die nicht mit den Grundsätzen der Selbstbestimmung und der relativen Wirkung der Verträge und dem völkerrechtlichen Grundsatz der Durchführung der Verträge nach Treu und Glauben zu vereinbaren wäre.

EuGH, Urteil vom 21.12.2016 - C-104/16

Redaktion beck-aktuell, 21. Dezember 2016.

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