Kroatisches Evidenzrichter-Verfahren nicht mit EU-Recht vereinbar

Der Spruchkörper, der mit einer Rechtssache befasst ist, muss allein die das Verfahren beendende Entscheidung treffen. Eingriffe von einer außerhalb stehenden Person wie einem Evidenzrichter, der in Kroatien an Gerichten der zweiten Instanz existiert, darf es nicht geben, so der EuGH.

Bei den kroatischen zweitinstanzlichen Gerichten müssen alle von einem Spruchkörper erlassenen Entscheidungen an den Evidenzrichter des Gerichts weitergeleitet werden. Erst dann gelten sie als förmlich ergangen und können an die Parteien zugestellt werden. Der Evidenzrichter wird vom Präsidenten des jeweiligen Gerichts benannt und ist befugt, die Verkündung eines Urteils auszusetzen sowie dem Spruchkörper Weisungen zu erteilen. Von seiner Beteiligung wissen die Parteien nichts. Auch seinen Namen kennen sie nicht.

Folgt der Spruchkörper den Weisungen des Evidenzrichters nicht, kann er die Einberufung einer Abteilungssitzung beantragen. Diese kann eine "Rechtsauffassung" festlegen, die für alle der Abteilung angehörenden Spruchkörper verbindlich ist. Der betreffende Spruchkörper, der seine Beratungen bereits abgeschlossen hatte, muss dann gegebenenfalls seine zuvor angenommene gerichtliche Entscheidung abändern.

EuGH bestätigt Zweifel des vorlegenden Gerichts

Das kroatische Hohe Handelsgericht erläutert, dieser Verfahrensmechanismus solle dazu dienen, die Kohärenz der Rechtsprechung zu gewährleisten. Es bezweifelt aber, dass der Mechanismus mit Unionsrecht, insbesondere dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, vereinbar ist – und hat daher den EuGH angerufen. Dieser bestätigt die Zweifel (Urteil vom 11.07.2024 – C-554/21, C-622/21 und C-727/21). Weder sei die Institution des Evidenzrichters mit Unionsrecht, noch der Zwang, in Folge einer Abteilungssitzung den Inhalt einer zuvor erlassenen gerichtlichen Entscheidung ändern zu müssen.

Das Unionsrecht garantiere, dass der mit einer Rechtssache befasste Spruchkörper allein die das Verfahren beendende Entscheidung trifft. Die Besetzung der Spruchkörper müsse in transparenten und den Rechtsuchenden bekannten Vorschriften geregelt sein. Es gehe darum, jeden unzulässigen Eingriff durch Personen, die nicht dem betreffenden Spruchkörper angehören und vor denen die Parteien nicht Stellung nehmen konnten, auszuschließen.

Um Divergenzen in der Rechtsprechung zu vermeiden oder auszuräumen sei allerdings ein Mechanismus zulässig, der es einem Richter eines Gerichts, der nicht dem zuständigen Spruchkörper angehört, ermöglicht, eine Rechtssache an einen erweiterten Spruchkörper dieses Gerichts zu verweisen. Dafür müssten aber drei Voraussetzungen gewahrt sein: Erstens dürfe der ursprünglich benannte Spruchkörper noch nicht in die Beratung der Rechtssache eingetreten sein. Zweitens müssten die Voraussetzungen für eine solche Verweisung in den einschlägigen Rechtsvorschriften klar angegeben sein. Und drittens müsse es den betroffenen Personen trotz der Verweisung möglich sein, sich an dem Verfahren vor dem erweiterten Spruchkörper zu beteiligen.

EuGH, Urteil vom 11.07.2024 - C-727/21

Redaktion beck-aktuell, bw, 11. Juli 2024.