Unterstützung französischer Behörden zugesichert
France Télécom (heute Orange) wurde 1991 als öffentliches Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit gegründet und hat seit 1996 den Status einer französischen Aktiengesellschaft, deren Mehrheitsaktionär im Jahr 2002 der französische Staat war. Am 30.06.2002 erreichten die Nettoschulden von France Télécom 69,69 Milliarden Euro, wovon 48,9 Milliarden Euro auf Obligationen entfielen, die in den Jahren 2003 bis 2005 zur Rückzahlung fällig wurden. Zur finanziellen Situation von France Télécom erklärte der französische Minister für Wirtschaft, Finanzen und Industrie in einem am 12.07.2002 in der Tageszeitung "Les Échos" veröffentlichten Interview: "… Der Staat als Aktionär wird sich wie ein umsichtiger Kapitalgeber verhalten, und wenn France Télécom Schwierigkeiten haben sollte, werden wir die geeigneten Maßnahmen treffen. … Ich wiederhole, wenn France Télécom Finanzierungsprobleme haben sollte, was gegenwärtig nicht der Fall ist, würde der Staat die zu ihrer Überwindung erforderlichen Entscheidungen treffen." Nach dieser Erklärung folgten am 13.09.2002 und 02.10.2002 weitere öffentliche Erklärungen, die im Wesentlichen darauf gerichtet waren, France Télécom die Unterstützung der französischen Behörden zuzusichern.
Vertragsangebot weder angenommen noch vollzogen
Am 04.12.2002 gab der französische Staat das Vorhaben eines Aktionärsvorschusses bekannt, den er für das Unternehmen beabsichtigte. Dieses Vorhaben bestand in der Eröffnung einer Kreditlinie von neun Milliarden Euro in der Form eines Vertrags über einen Vorschuss, dessen Angebot France Télécom am 20.12.2002 übersandt wurde. Das Vertragsangebot wurde jedoch weder angenommen noch vollzogen. Mit Entscheidung vom 02.08.2004 stellte die Kommission fest, dass dieser Vorschuss vor dem Hintergrund der seit Juli 2002 abgegebenen Erklärungen eine mit dem Unionsrecht unvereinbare staatliche Beihilfe darstelle. Die französische Regierung, France Télécom und andere Beteiligte erhoben daraufhin beim Gericht der Europäischen Union Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung der Kommission.
EuG erklärte Entscheidung der Kommission für nichtig
In seinem Urteil vom 21.05.2010 (BeckRS 2010, 91135) erklärte das EuG die Entscheidung der Kommission für nichtig, weil weder die Erklärungen der französischen Behörden noch das Angebot des Aktionärsvorschusses trotz des France Télécom dadurch gewährten finanziellen Vorteils als staatliche Beihilfen qualifiziert werden könnten, da tatsächlich keine staatlichen Mittel gebunden worden seien. Gegen das Urteil wurden Rechtsmittel beim EuGH eingelegt.
EuGH verwies Sache zunächst zurück
Mit Urteil vom 19.03.2013 (BeckRS 2013, 80588) hob der EuGH das Urteil des Gerichts auf, weil nach seiner Auffassung der France Télécom versprochene Vorschuss, obwohl er nicht angenommen worden war, dem Unternehmen einen aus staatlichen Mitteln gewährten Vorteil verschafft habe, soweit potenziell der Staatshaushalt belastet worden sei. Der EuGH verwies die Rechtssache dann zur Entscheidung über die vom französischen Staat und von France Télécom vorgetragenen Argumente, über die das Gericht in seinem ersten Urteil nicht entschieden hatte, an dieses zurück.
Streit um Kriterium des umsichtigen privaten Kapitalgebers
Am 02.07.2015 (BeckEuRS 2015, 478000) erklärte das Gericht die Entscheidung der Kommission ein zweites Mal für nichtig, dieses Mal mit der Begründung, dass die Kommission das Kriterium des umsichtigen privaten Kapitalgebers nicht richtig angewandt hatte. Da sie mit diesem Urteil des EuG nicht einverstanden war, beantragte die Kommission seine Aufhebung durch den EuGH.
EuGH weist Rechtsmittel der Kommission zurück
Der EuGH hat jetzt das Rechtsmittel der Kommission zurückgewiesen und das Urteil des EuG vom 02.07.2015 bestätigt. Daraus folgt, dass die Entscheidung der Kommission vom 02.08.2004 endgültig für nichtig erklärt wird. Insbesondere stellte der EuGH fest, dass das Gericht entgegen der Auffassung der Kommission weder die Grenzen der von ihm auszuübenden Kontrolle überschritten noch die Entscheidung der Kommission verfälscht hat. Das Gericht habe nämlich die Würdigung durch die Kommission, wonach bei der Anwendung des Kriteriums des umsichtigen privaten Kapitalgebers auf Juli 2002 und nicht auf Dezember 2002 abzustellen sei, geprüft. Hierbei habe es festgestellt, dass diese Würdigung auf einer selektiven Berücksichtigung der verfügbaren Beweise beruhe und dass diese Beweise außerdem nicht geeignet seien, die Schlussfolgerungen der Kommission zu stützen. Das Gericht habe daher zutreffend entschieden, dass die Würdigung durch die Kommission mit einem offensichtlichen Fehler behaftet ist.
EuG stellte auf richtigen Zeitpunkt für Anwendung des Kriteriums des privaten Kapitalgebers ab
Zu dem Argument der Kommission, für die Anwendung des Kriteriums des privaten Kapitalgebers sei nicht auf Dezember 2002, sondern auf Juli 2002 abzustellen gewesen, erläutert der EuGH, dass nach den Feststellungen des Gerichts das Angebot eines Aktionärsvorschusses erst im Dezember 2002 erfolgte, die französische Regierung im Juli 2002 keine feste Zusage gegeben hat und die Entscheidung, France Télécom durch das Angebot eines Aktionärsvorschusses finanziell zu unterstützen, nicht im Juli 2002, sondern Anfang Dezember 2002 getroffen wurde. Den Zeitpunkt, auf den für die Beurteilung anhand des Kriteriums des umsichtigen privaten Kapitalgebers abzustellen ist, auf Juli 2002 vorzuziehen, hätte zwangsläufig dazu geführt, bei dieser Beurteilung Umstände, die zwischen Juli 2002 und Dezember 2002 eingetreten sind, unberücksichtigt zu lassen, wie das Gericht zutreffend festgestellt habe.