Kontrolle von Sea-Watch-Schiffen nur mit hinreichendem Grund
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© ASSOCIATED PRESS / Nora Boerding

Schiffe humanitärer Organisation, die eine systematische Tätigkeit der Suche und Rettung von Personen auf See ausüben, dürfen vom Hafenstaat einer Kontrolle unterzogen werden. Zu diesem Zweck müssen jedoch belastbare Anhaltspunkte für eine Gefahr für die Gesundheit, die Sicherheit, die Arbeitsbedingungen an Bord oder die Umwelt vorliegen. Festhaltemaßnahmen seien nur im Fall einer eindeutigen Gefahr für die Sicherheit, die Gesundheit oder die Umwelt zulässig, so der Gerichtshof der Europäischen Union.

Streit um Kontrollen von Sea-Watch-Flüchtlingsrettungsbooten in Italien

Die humanitäre Organisation Sea Watch führte im Sommer 2020 Rettungseinsätze im Mittelmeer durch und schiffte aus Seenot gerettete Flüchtlinge in den Häfen von Palermo und Porto Empedocle (Italien) aus. Anschließend wurden die Schiffe von den Hafenbehörden dieser Häfen Überprüfungen unterzogen. Grund sei, dass sie für die Tätigkeit der Suche und Rettung auf See nicht zertifiziert seien und eine weitaus höhere Anzahl von Personen an Bord aufgenommen hätten als zulässig sei. Außerdem lägen technische und operative Mängel vor, die eindeutig eine Gefahr für die Sicherheit, die Gesundheit oder die Umwelt begründeten und das Festhalten dieser Schiffe erforderten. Sea Watch erhob in Italien zwei Klagen auf Nichtigerklärung dieser Maßnahmen. Die Organisation meint, dass die Hafenbehörden die Befugnisse aus der Richtlinie 2009/161 überschritten hätten. Das mit der Sache befasste Gericht ersuchte den Gerichtshof um Klärung.

EuGH: Hafenkontrollen auch bei Sea-Watch-Booten zulässig

Der EuGH hat klargestellt, dass die Hafenstaatkontrollrichtlinie grundsätzlich auch für Schiffe humanitärer Organisationen gilt. Die Richtlinie sei jedoch unter Berücksichtigung der Regeln des Völkerrechts auszulegen. Hierbei sei insbesondere die Pflicht, Menschen aus Seenot zu retten zu berücksichtigen. Deshalb könne die Anzahl der Personen an Bord, selbst wenn sie weit über der zulässigen Anzahl liege, für sich genommen keinen Grund darstellen, der eine Kontrolle rechtfertige. Habe ein solches Schiff jedoch die Ausschiffung oder das Umsteigen dieser Personen in einem Hafen abgeschlossen, so sei der Hafenstaat befugt, das Schiff einer Überprüfung zu unterziehen, um die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften auf See zu kontrollieren. Zu diesem Zweck müssten jedoch belastbare Anhaltspunkte für eine Gefahr für die Gesundheit, die Sicherheit, die Arbeitsbedingungen an Bord oder die Umwelt vorliegen.

Festhalterecht nur bei Gefahren für die Sicherheit auf See

Zur Annahme belastbarer Anhaltspunkte reiche es zwar aus, wenn Schiffe, die vom Flaggenstaat als Frachtschiffe klassifiziert und zertifiziert worden seien, in der Praxis für eine systematische Tätigkeit der Suche und Rettung von Personen verwendet werden. Der Hafenstaat sei aber nicht befugt, den Nachweis zu verlangen, dass diese Schiffe über andere als die vom Flaggenstaat ausgestellten Zeugnisse verfügten oder dass sie sämtliche für eine andere Klassifikation geltenden Anforderungen erfüllten. Bei berechtigten Beanstandungen sei der Hafenstaat befugt, die von ihm für erforderlich gehaltenen Abhilfemaßnahmen zu ergreifen. Allerdings müssten diese Abhilfemaßnahmen in jedem Fall geeignet, erforderlich und angemessen sein. Außerdem dürfe der Hafenstaat die Aufhebung der Anordnung des Festhaltens eines Schiffes nicht davon abhängig machen, dass das Schiff über andere als die vom Flaggenstaat ausgestellten Zeugnisse verfüge. Werde bei der Überprüfung nachgewiesen, dass ein Schiff, unter der Flagge eines anderen Mitgliedstaats Mängel aufweise, die ein Festhalten rechtfertige, müssten zudem Hafenstaat und Flaggenstaat zusammenzuarbeiten und sich abstimmen.

Sea Watch sieht Urteil als Erfolg

"Das Urteil ist ein großer Erfolg für uns", sagte ein Sprecher von Sea Watch der Deutschen Presse-Agentur. Italien müsse jetzt konkrete Anhaltspunkte für eine Hafenkontrolle vorlegen. Die Organisation sprach davon, dass das Mittelmeerland zuvor darauf verwiesen habe, dass die Sea-Watch-Schiffe nicht in der richtigen Kategorie als Rettungsschiffe zertifiziert seien. Der deutsche Flaggenstaat hingegen sieht laut der Organisation eine solche Kategorie für zivile Schiffe überhaupt nicht vor. Seenotretter beklagen immer wieder, dass die italienischen Behörden ihre Schiffe mit fadenscheinigen Begründungen festhalten. Bei dem EuGH-Urteil vom Montag ging es um die unter deutscher Flagge fahrenden Schiffe "Sea-Watch 3" und "Sea-Watch 4". Sie fahren regelmäßig ins zentrale Mittelmeer, um dort Menschen zu retten, die auf der Flucht von Nordafrika in Richtung EU in Seenot geraten sind.

EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-14/21

Redaktion beck-aktuell, 1. August 2022 (ergänzt durch Material der dpa).