Offenzulegende Beweismittel können auch neu zu erstellende Dokumente sein

Die Offenlegung "relevanter Beweismittel" im Sinn des Unionsrechts, die die private Durchsetzung der EU-Wettbewerbsvorschriften erleichtern soll, umfasst auch Dokumente, die eine Partei durch die Zusammenstellung oder Klassifizierung von Informationen, Kenntnissen oder Daten, die sich in ihrer Verfügungsgewalt befinden, erstellen kann. Der Europäische Gerichtshof gibt aber zu bedenken, dass der dafür zu betreibende Aufwand verhältnismäßig bleiben muss.

Verfahren um illegale Preisabsprachen von Lkw-Herstellern

Die Richtlinie 2014/104 soll die private Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften der Union erleichtern, insbesondere durch Vorschriften über die Offenlegung von Beweismitteln vor nationalen Gerichten im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten über den Ersatz von Schäden, die aufgrund von gegen das Wettbewerbsrecht der Union verstoßenden Verhaltensweisen erlitten wurden. Am 19.07.2016 stellte die EU-Kommission fest, dass 15 internationale Lkw-Hersteller an Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht beteiligt waren, indem sie zwischen Januar 1997 und Januar 2011 Absprachen über Preise und Preiserhöhungen getroffen hatten. Personen, die von diesem Beschluss erfasste Lkws erworben hatten, beantragten beim Handelsgericht Nr. 7 Barcelona Zugang zu Beweismitteln, die sich in der Verfügungsgewalt der Hersteller befanden, um die künstliche Preiserhöhung infolge dieser Zuwiderhandlungen ermitteln zu können, insbesondere durch einen Vergleich der empfohlenen Preise vor, während und nach dem Zeitraum des Kartells.

Erfasst Offenlegungspflicht auch noch zu erstellende Dokumente?

Die Lkw-Hersteller machten geltend, dass diese Offenlegung von Beweismitteln über das einfache Auffinden und Auswählen bereits vorhandener Dokumente oder die einfache Bereitstellung der betroffenen Daten hinausgehe. Ihrer Ansicht nach gehe es darum, die Informationen, Kenntnisse oder Daten, die sich in der Verfügungsgewalt der Partei befänden, gegen die sich der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln richte, in einem leeren Dokument in digitaler oder sonstiger Form zu erfassen, was für sie eine übermäßige Belastung mit sich bringe und gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße. Vor diesem Hintergrund möchte das Handelsgericht Nr. 7 Barcelona vom EuGH wissen, ob sich die Offenlegung relevanter Beweismittel ausschließlich auf Dokumente bezieht, die bereits existieren, oder auch auf solche, die derjenige, gegen den sich der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln richtet, neu erstellen muss, indem er Informationen, Kenntnisse oder Daten, die sich in seiner Verfügungsgewalt befinden, zusammenstellt oder klassifiziert.

EuGH: Auch neu zu erstellende Dokumente können erfasst sein

Der EuGH bejaht eine Erstellungspflicht, aber in Grenzen. Die befassten nationalen Gerichte müssten sicher stellen, dass die von ihnen angeordnete Offenlegung von Beweismitteln relevant, verhältnismäßig und erforderlich ist. Dabei müssten sie die berechtigten Interessen und Grundrechte des Antragsgegners berücksichtigen. Der Gerichtshof nimmt eine Auslegung der fraglichen Norm vor. Zunächst betreffe der Begriff "Beweismittel" im Sinn der Richtlinie "alle vor dem befassten nationalen Gericht zulässigen Arten von Beweismitteln, insbesondere Urkunden und alle sonstigen Gegenstände, die Informationen enthalten, unabhängig von dem Medium, auf dem die Informationen gespeichert sind". Daraus folge, dass es sich bei den betreffenden Beweismitteln nicht notwendigerweise um bereits vorhandene "Dokumente" handeln müsse. Sodann beschränke sich der Unionsgesetzgeber durch die Bezugnahme auf Beweismittel, die sich "in der… Verfügungsgewalt" des Beklagten oder eines Dritten befinden. Er sei beim Erlass der Richtlinie 2014/104 von der Feststellung ausgegangen, dass die öffentliche Bekämpfung wettbewerbswidriger Verhaltensweisen nicht ausreiche, um die vollständige Wahrung des Wettbewerbsrechts zu gewährleisten, und dass es wichtig sei, die Möglichkeit einer privaten Mitwirkung zur Erreichung dieses Ziels zu erleichtern.

Übermittlung nicht bearbeiteter Dokumente unzureichend

Der EuGH stellt klar, dass es daher notwendig sei, Instrumente einzusetzen, die geeignet sind, die Informationsasymmetrie zwischen den Parteien zu beheben. Der Rechtsverletzer wisse definitionsgemäß, was ihm vorgeworfen werde, und er kenne die Beweismittel, die als Nachweis seiner Beteiligung an einer wettbewerbswidrigen Verhaltensweise gedient haben können. Das Opfer des durch diese Verhaltensweise verursachten Schadens verfüge dagegen nicht darüber. Insoweit entspräche die Übermittlung einer – möglicherweise sehr großen – Zahl vorhandener, nicht bearbeiteter Dokumente an den Kläger dessen Antrag nur unzureichend. Darüber hinaus würde ein Ausschluss der Möglichkeit, die Offenlegung von neuen Dokumenten zu verlangen, die private Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften der Union erschweren, was dem oben angeführten Ziel der Richtlinie 2014/104 zuwiderlaufen würde.

Nationale Gerichte müssen aber auf Verhältnismäßigkeit achten

Schließlich fügt der Gerichtshof hinzu, dass der Unionsgesetzgeber einen Mechanismus der Abwägung der widerstreitenden Interessen unter der strengen Kontrolle der befassten nationalen Gerichte eingeführt hat. Es sei Sache dieser Gerichte zu beurteilen, ob der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln, die auf der Grundlage bereits vorhandener, in der Verfügungsgewalt des Beklagten oder eines Dritten befindlicher einzelner Beweismittel neu zu erstellen sind, zum Beispiel angesichts seiner ausschweifenden oder zu allgemeinen Art, den Beklagten oder den betroffenen Dritten unverhältnismäßig belasten kann, sei es durch die Kosten oder die Arbeitsbelastung, die dieser Antrag verursachen würde.

EuGH, Urteil vom 10.11.2022 - C-163/21

Redaktion beck-aktuell, 10. November 2022.