EuGH: Grenzüberschreitende Verlegung des satzungsmäßigen Gesellschaftssitzes darf nicht von Liquidation abhängig gemacht werden

Die Mitgliedstaaten können Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen wollen, nicht generell zur Liquidation verpflichten. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 25.10.2017 entschieden. Dies verstieße gegen Niederlassungsfreiheit (Az.: C-106/16).

Beschluss über Verlegung des Gesellschaftssitzes nach Luxemburg

Polbud ist eine Gesellschaft mit Sitz in Polen. Mit einem Beschluss von 2011 entschied ihre außerordentliche Hauptversammlung, den Gesellschaftssitz nach Luxemburg zu verlegen. Dieser Beschluss enthält keinen Hinweis darauf, dass der Verwaltungssitz von Polbud oder der Ort der tatsächlichen Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit ebenfalls nach Luxemburg verlegt worden wäre. Auf der Grundlage dieses Beschlusses wurde die Eröffnung des Liquidationsverfahrens ins polnische Handelsregister eingetragen und der Liquidator wurde bestellt.

Löschungsantrag vom Registergericht abgelehnt

2013 wurde der satzungsmäßige Sitz von Polbud nach Luxemburg verlegt. Polbud wurde zu "Consoil Geotechnik Sàrl", einer Gesellschaft luxemburgischen Rechts. Außerdem beantragte Polbud beim polnischen Registergericht die Löschung im polnischen Handelsregister. Dieser Löschungsantrag wurde vom Registergericht abgelehnt. Gegen diesen Beschluss erhob Polbud Klage.

Polnisches Vorlagegericht rief EuGH an

Der im Rechtsmittelverfahren mit der Sache befasste Oberste Gerichtshof (Sąd Najwyższy) wollte vom EuGH zunächst wissen, ob die Niederlassungsfreiheit für die Verlegung lediglich des satzungsmäßigen Sitzes einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat gelte, wenn die Gesellschaft ohne Verlegung ihres tatsächlichen Sitzes in eine dem Recht dieses anderen Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaft umgewandelt wird. Weiter fragte das Gericht, ob die polnische Regelung, die die Löschung im Handelsregister davon abhängig mache, dass die Gesellschaft am Ende eines Liquidationsverfahrens aufgelöst werde, mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar sei.

EuGH: Umwandlung in eine dem Recht eines anderen EU-Staats unterliegende Gesellschaft von Niederlassungsfreiheit umfasst

Der EuGH erinnert daran, dass nach dem Unionsrecht diejenigen Gesellschaften Niederlassungsfreiheit genössen, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet worden seien und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Europäischen Union hätten. Diese Grundfreiheit umfasse unter anderem den Anspruch einer solchen Gesellschaft auf Umwandlung in eine dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaft.

Verlegung der Geschäftstätigkeit nicht erforderlich

Für den vorliegenden Fall gelte demnach, dass Polbud durch die Niederlassungsfreiheit den Anspruch auf Umwandlung in eine Gesellschaft luxemburgischen Rechts erhalte, soweit sie die nach luxemburgischem Recht für die Gründung einer Gesellschaft geltenden Voraussetzungen und insbesondere das Kriterium erfülle, das in Luxemburg für die Verbundenheit einer Gesellschaft mit seiner nationalen Rechtsordnung erforderlich sei. Außerdem fällt nach Auffassung des EuGH ein Sachverhalt, bei dem eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft eine Umwandlung in eine dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaft unter Beachtung des Kriteriums vornehmen will, das in diesem anderen Mitgliedstaat für die Verbundenheit einer Gesellschaft mit seiner nationalen Rechtsordnung erfüllt werden müsse, unter die Niederlassungsfreiheit, selbst wenn diese Gesellschaft ihre Geschäftstätigkeit im Wesentlichen oder ausschließlich im ersten Mitgliedstaat ausüben soll.

Verlegung wegen günstigerer Rechtsvorschriften begründet allein keinen Missbrauch

Dass eine Gesellschaft ihren – satzungsmäßigen oder tatsächlichen – Sitz nach dem Recht eines Mitgliedstaats begründe, um in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen, stelle für sich allein keinen Missbrauch dar. Folglich könne der Beschluss von Polbud, ohne Verlegung ihres tatsächlichen Sitzes nur ihren satzungsmäßigen Sitz nach Luxemburg zu verlegen, als solcher nicht dazu führen, dass diese Verlegung nicht in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit fällt.

Polnische Liquidationsregelung beschränkt Niederlassungsfreiheit

Weiter führt der EuGH aus, dass eine polnische Gesellschaft wie Polbud zwar grundsätzlich befugt sei, ihren satzungsmäßigen Sitz ohne Verlust ihrer Rechtspersönlichkeit von Polen in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, dass sie aber nach polnischem Recht nur dann im polnischen Handelsregister gelöscht werden könne, wenn zuvor ein Liquidationsverfahren durchgeführt wurde. Insoweit weist der EuGH darauf hin, dass nach polnischem Recht von der Liquidation die Beendigung der laufenden Geschäfte und die Beitreibung der Forderungen der Gesellschaft, die Erfüllung der Verbindlichkeiten und die Verflüssigung des Gesellschaftsvermögens, die Befriedigung oder Absicherung der Gläubiger, die Erstellung eines Finanzberichts über die Vornahme dieser Handlungen und die Benennung des Verwahrers der Bücher und Unterlagen der Gesellschaft, die abgewickelt werde, umfasst seien. Die polnische Regelung sei, da sie die Liquidation der Gesellschaft verlange, geeignet, die grenzüberschreitende Umwandlung einer Gesellschaft zu erschweren oder gar zu verhindern. Folglich stelle diese Regelung eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar.

Allgemeine Verpflichtung zur Liquidation unverhältnismäßig

Laut EuGh kann eine solche Beschränkung zwar grundsätzlich durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, etwa den Schutz der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter und der Arbeitnehmer, gerechtfertigt sein. Die polnische Regelung sehe jedoch eine allgemeine Verpflichtung zur Liquidation vor, ohne dabei zu berücksichtigen, ob tatsächlich eine Gefahr für diese Interessen besteht, und ohne eine Möglichkeit vorzusehen, weniger einschneidende Maßnahmen zu wählen, durch die diese Interessen ebenso geschützt werden können. Folglich gehe eine solche Verpflichtung über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, die genannten Interessen zu schützen, erforderlich sei. Zum Vorbringen der polnischen Regierung, dass diese Regelung durch das Ziel, missbräuchliche Verhaltensweisen zu bekämpfen, gerechtfertigt sei, stellt der EuGH schließlich fest, dass eine solche Regelung unverhältnismäßig sei, da die allgemeine Pflicht zur Durchführung eines Liquidationsverfahrens einer allgemeinen Missbrauchsvermutung gleichkomme.

EuGH, Urteil vom 25.10.2017 - C-106/16

Redaktion beck-aktuell, 25. Oktober 2017.

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