EuGH: Grenzgänger hat Anspruch auf Kindergeld auch für Kind seines Ehepartners

Ein Mitgliedstaat darf die Zahlung von Kindergeld für das Kind des Ehepartners eines Grenzgängers, das zu diesem in keinem Abstammungsverhältnis steht, nicht verweigern. Kindergeld stelle eine soziale Vergünstigung und eine Leistung der sozialen Sicherheit dar, unterstreicht der Europäische Gerichtshof. Es unterliege daher dem Gleichbehandlungsgrundsatz (Urteil vom 02.04.2020, Az.: C-802/18).

In Frankreich wohnende Patchworkfamilie mit in Luxemburg arbeitendem Vater

FV arbeitet in Luxemburg und wohnt mit seiner Ehefrau GW in Frankreich. Das Paar hat zwei gemeinsame Kinder. HY, der aus einer früheren Beziehung von GW stammt, lebt ebenso bei dem Paar. GW hat das alleinige Sorgerecht für HY. Bis zum Inkrafttreten des luxemburgischen Gesetzes vom 23.07.2016 bezog der Haushalt aufgrund der Grenzgängereigenschaft von FV für alle drei Kinder das luxemburgische Kindergeld. Seit Inkrafttreten dieses Gesetzes, mit dem das Sozialgesetzbuch dahin geändert wurde, dass es die Kinder des Ehe- oder Lebenspartners vom Begriff "Familienangehöriger" ausschloss, bezog der Haushalt kein Kindergeld mehr für HY. Mit Bescheid vom 08.11.2016 vertrat nämlich die Zukunftskasse (Luxemburg) die Ansicht, dass FV ab dem 01.08.2016 für HY keinen Anspruch mehr auf Kindergeld habe. Da dieses Kind in keinem Abstammungsverhältnis zu FV stehe, sei es kein "Familienangehöriger", was den Anspruch auf das luxemburgische Kindergeld ausschließe.

Vater focht Bescheid der Zukunftskasse an

FV focht den Bescheid der Zukunftskasse beim Conseil arbitral de la sécurité sociale (Schiedsgericht der Sozialversicherung, Luxemburg) an, nach dessen Ansicht die luxemburgischen Familienleistungen eine soziale Vergünstigung im Sinne der Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung (VO (EU) Nr. 492/2011) darstellen und an die Ausübung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit anknüpfen, da FV ein den luxemburgischen Rechtsvorschriften unterliegender Arbeitnehmer sein müsse, um sie zu erhalten.

Kindergeld soziale Vergünstigung im Sinn der Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung?

Die Zukunftskasse legte beim Conseil supérieur de la sécurité sociale (Oberstes Schiedsgericht der Sozialversicherung, Luxemburg) Berufung ein, weil sie insbesondere mit der Einstufung der Familienleistungen als soziale Vergünstigung nicht einverstanden war. Dieses Gericht befragte wiederum den EuGH. Es will unter anderem wissern, ob Kindergeld, das an die Ausübung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit eines Grenzgängers in einem Mitgliedstaat geknüpft ist, eine soziale Vergünstigung im Sinn der Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung darstellt. Auch fragt es, ob das Unionsrecht den Bestimmungen eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach Grenzgänger ein an die Ausübung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit geknüpftes Kindergeld nur für ihre eigenen Kinder und nicht für die Kinder ihres Ehepartners beziehen können, die in keinem Abstammungsverhältnis zu ihnen stehen, während der Anspruch auf diese Leistung für alle in diesem Mitgliedstaat wohnenden Kinder besteht.

EuGH bewertet Kindergeld hier als soziale Vergünstigung

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass der Begriff der sozialen Vergünstigung im Fall von Arbeitnehmern, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, alle Vergünstigungen umfasst, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern im Allgemeinen gewährt werden, und zwar hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland. Dann führt er aus, dass ausweislich der ihm vorliegenden Akte das fragliche Kindergeld, das eine Vergünstigung darstellt, bei einem Grenzgänger wie FV an die Ausübung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit in Luxemburg geknüpft ist. Es sei FV ursprünglich nur gewährt worden, weil er ein den luxemburgischen Rechtsvorschriften unterliegender Grenzgänger war. Der EuGH folgert daraus, dass Kindergeld, das an die Ausübung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit eines Grenzgängers in einem Mitgliedstaat geknüpft ist, eine soziale Vergünstigung darstellt.

Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit anzuwenden

Zum Verhältnis zwischen dem Grenzgänger und einem bei ihm lebenden Kind weist der EuGH zunächst darauf hin, dass die betreffende Leistung für alle in Luxemburg wohnenden Kinder sowie für alle Kinder von gebietsfremden Arbeitnehmern, die ein Abstammungsverhältnis zu Letzteren aufweisen, ausgezahlt wird. Sie werde folglich aufgrund eines gesetzlich definierten Tatbestands unabhängig von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit gewährt. Zudem stelle die fragliche Leistung einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget dar, der dazu dienen solle, die Kosten für den Unterhalt von Kindern zu verringern. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass dieses Kindergeld eine Leistung der sozialen Sicherheit darstellt, was die Anwendbarkeit der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) Nr. 883/2004) zur Folge habe. Der Gerichtshof führt weiter aus, dass diese Verordnung im Fall eines Grenzgängers wie FV zur Anwendung kommt, da sie für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen gilt.

Auch mit unterhaltenes Kind des Ehegatten zu berücksichtigen

Im Übrigen erinnert der Gerichtshof daran, dass die Familienangehörigen eines Wanderarbeitnehmers mittelbare Nutznießer der diesem Arbeitnehmer durch die Arbeitnehmerfreizügigkeitsverordnung zuerkannten Gleichbehandlung in Bezug auf die sozialen Vergünstigungen sind. Ferner sei unter dem Kind eines Grenzgängers, dem diese sozialen Vergünstigungen mittelbar zugutekommen können, nicht nur ein Kind zu verstehen, das zu diesem Erwerbstätigen in einem Abstammungsverhältnis steht, sondern auch das Kind des Ehegatten oder eingetragenen Lebenspartners des Erwerbstätigen, wenn letzterer zum Unterhalt des Kindes beiträgt.

Nichtberücksichtigung mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit

Der Grundsatz der Gleichbehandlung verbiete nicht nur unmittelbare Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle mittelbaren Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen. Daher sei im Hinblick auf die spezifischen Umstände des Falles von FV zu prüfen, ob eine Diskriminierung vorliegt. Nach den geltenden luxemburgischen Rechtsvorschriften hätten alle in Luxemburg wohnenden Kinder unabhängig von ihrem Status innerhalb des Haushalts des Arbeitnehmers Anspruch auf dieses Kindergeld. Gebietsfremde Arbeitnehmer könnten es hingegen nur für ihre eigenen Kinder in Anspruch nehmen und nicht für die Kinder ihres Ehepartners, die zu ihnen in keinem Abstammungsverhältnis stehen. Eine solche auf dem Wohnsitz beruhende Unterscheidung, die sich stärker zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirken kann, da Gebietsfremde meist Ausländer sind, stelle eine mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar, die nur dann zulässig wäre, wenn sie objektiv gerechtfertigt wäre, was in der fraglichen Rechtssache nicht der Fall sei.

Gleichbehandlungsgrundsatz steht luxemburgischer Regelung entgegen

Der Gerichtshof betont, dass sich zwar nach dem nationalen Recht bestimmt, welche Personen Anspruch auf Familienleistungen haben, dass aber gleichwohl die Mitgliedstaaten das Unionsrecht, im vorliegenden Fall die Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, beachten müssen. Daher stehe der Gleichbehandlungsgrundsatz speziell auf dem Gebiet der Gewährung sozialer Vergünstigungen Vorschriften eines Mitgliedstaats entgegen, wonach gebietsfremde Arbeitnehmer eine Leistung wie das von FV beantragte Kindergeld nur für ihre eigenen Kinder beziehen können und nicht für die Kinder ihres Ehepartners, die in keinem Abstammungsverhältnis zu ihnen stehen, aber für deren Unterhalt sie aufkommen, während alle in diesem Mitgliedstaat wohnenden Kinder Anspruch auf dieses Kindergeld haben.

EuGH, Urteil vom 02.04.2020 - C-802/18

Redaktion beck-aktuell, 2. April 2020.