SE-Umwandlung: Gewerkschaften haben Recht auf eigenen Wahlgang
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© Uwe Anspach / dpa

Wenn in Deutschland ein Unternehmen in eine Europäische Gesellschaft (Societas Europaea – SE) umgewandelt wird, muss es für die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Mitglieder des Aufsichtsrats weiterhin einen eigenen Wahlgang geben. Das hat der Europäische Gerichtshof heute im Fall des Softwarekonzerns SAP entschieden. Damit haben die IG Metall und die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di mit ihrer zugrundeliegenden Klage vor dem Bundesarbeitsgericht einen Sieg erzielt.

"Mitbestimmung einfrieren"

Seit Einführung der ­Societas Europaea (SE) – auch Europa-AG genannt – warben Wirtschaftsanwälte für die Umwandlung in die neue Rechtsform nicht zuletzt mit dem Argument, damit lasse sich der jeweilige Status quo der Mitbestimmung im Unternehmen "einfrieren". Die Luxemburger Richter haben nun im Fall des Softwarekonzerns SAP geklärt, wieweit dabei die Rechte der Gewerkschaften reichen. Ursprünglich galt dort das Mitbestimmungsgesetz. Der 16-köpfige Aufsichtsrat der AG deutschen Rechts war je zur Hälfte mit Mitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer besetzt. Zu Letzteren gehörten zwei Personen, die von Gewerkschaften vorgeschlagen worden waren und in einem separaten Wahlgang bestimmt wurden. Beim Wechsel des Rechtskleids im Jahr 2014 wurde zwischen der Arbeitgeberin und dem "besonderen Verhandlungsgremium" eine Vereinbarung nach dem SE-Beteiligungsgesetz (SEBG) geschlossen, die eine Möglichkeit zur Verkleinerung des Kontrollorgans auf zwölf Mitglieder vorsieht. Dann sollen die Gewerkschaften zwar eigene Vorschläge ­unterbreiten, aber kein getrennter Wahlgang mehr stattfinden. IG Metall und Ver.di halten dagegen, dies verstoße gegen § 21 Abs. 6 SEBG. Auch Generalanwalt ­Richard de la Tour sieht darin ein "prägendes Element", das nicht Gegenstand von Verhandlungen sein könne.

Getrennten Wahlgang beibehalten

Dem schlossen sich nun die Europarichter an. "Schreibt das nationale Recht für die umzuwandelnde Gesellschaft einen getrennten Wahlgang für die Wahl der von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Arbeitnehmervertreter vor, muss eine solche Regelung (...) beibehalten werden", urteilten sie. Nach dem in dem Walldorfer Unternehmen ausgehandelten Verfahren sei jedoch nicht mehr sichergestellt, dass sich unter den Vertretern der Arbeitnehmer im Kontrollgremium auch tatsächlich ein Gewerkschaftsvertreter befinde. Das hatten Deutschlands oberste Arbeitsrichter genauso gesehen und darin einen Verstoß gegen die gesetzliche Regelung vermutet. Sie hatten aber Zweifel, ob die EU-Richtlinie 2001/86 zur Ergänzung des Statuts der SE hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer nicht ein – gegebenenfalls von allen Mitgliedstaaten in gleichem Maß sicherzustellendes – einheitliches Schutzniveau vorsehe, das geringer sei als nach deutschem Recht.

Auch für ausländische Gewerkschaften

Der EuGH befand hierzu: Nach deren Wortlaut müsse in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft bestehe, die in eine SE umgewandelt werden solle (Vorher-Nachher-Prinzip). Im vorliegenden Fall ist dem Urteil zufolge für die Beurteilung, ob die Vereinbarung eine mindestens gleichwertige Beteiligung sichere, das deutsche Recht maßgebend, wie es für diese Gesellschaft vor ihrer Umwandlung in eine SE galt – insbesondere das Mitbestimmungsgesetz. Der Unionsgesetzgeber sei der Auffassung gewesen, dass es angesichts der in den Mitgliedstaaten bestehenden Vielfalt an Regelungen und Gepflogenheiten nicht ratsam sei, ein auf die SE anwendbares einheitliches europäisches Modell der Arbeitnehmerbeteiligung vorzusehen. "Somit wollte der Unionsgesetzgeber die Gefahr ausschließen, dass die Gründung einer SE, insbesondere im Wege der Umwandlung, zu einer Einschränkung oder sogar zur Beseitigung der Beteiligungsrechte führt, die die Arbeitnehmer der Gesellschaft, die in die SE umgewandelt werden soll, nach den nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten genossen haben", schreibt der Gerichtshof weiter. Darüber hinaus stellte er klar, dass dann das Recht, einen bestimmten Anteil der Kandidaten für die Wahlen der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat vorzuschlagen, nicht nur den deutschen Gewerkschaften vorbehalten sein dürfe. Vielmehr sei er auf alle in der SE, ihren Tochtergesellschaften und Betrieben vertretenen Organisationen auszuweiten, so dass insoweit deren Gleichheit garantiert sei.

EuGH, Urteil vom 18.10.2022 - C-677/20

Redaktion beck-aktuell, Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung, 18. Oktober 2022.