Schottisches Gericht rief EuGH an
Das Vereinigte Königreich erklärte Ende März 2017 seine Absicht, aus der Europäischen Union auszutreten und löste dadurch das Verfahren nach Art. 50 EUV aus. Mehrere Abgeordnete des schottischen, britischen und europäischen Parlaments begehrten bei einem schottischen Gericht mit einem Feststellungsantrag die Klärung der Frage, ob das Vereinigte Königreich die EU-Austrittserklärung einseitig widerrufen kann. Das Berufungsgericht, der Court of Session, Inner House, legte diese Frage dem EuGH im Vorabentscheidungsverfahren vor.
EuGH-Generalanwalt: Einseitige Rücknahme der Austrittserklärung möglich
Nach Ansicht des Generalanwalts Manuel Campos Sánchez-Bordona kann das Vereinigte Königreich seine Austrittserklärung noch einseitig zurücknehmen. Er gelangt zu diesem Ergebnis unter Rückgriff auf das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge, auf denen Art. 50 EUV beruhe. Nach Art. 68 dieses Übereinkommens könnten Notifikationen des Rücktritts von einem völkerrechtlichen Vertrag jederzeit zurückgenommen werden, bevor sie wirksam werden. Der Generalanwalt hebt hervor, dass der Rücktritt von einem völkerrechtlichen Vertrag, der die Kehrseite der Befugnis zu dessen Abschluss darstelle, definitionsgemäß ein einseitiger Akt eines Vertragsstaats sei, in dem dessen Souveränität zum Ausdruck komme. Die einseitige Rücknahme sei ebenfalls Ausdruck der Souveränität des austretenden Staats, der beschlossen habe, seine ursprüngliche Entscheidung rückgängig zu machen.
Systematische Auslegung des Art. 50 EUV
Außerdem ergeben sich laut Generalanwalt aus der systematischen Auslegung des Art. 50 EUV mehrere Gründe, die für die Möglichkeit einer einseitigen Rücknahme der Austrittserklärung sprächen: So sei der Abschluss eines Abkommens keine Voraussetzung für die Umsetzung des Rücktritts. Ferner heiße es in Art. 50 Abs. 2 EUV, dass ein Mitgliedstaat "seine Absicht" auszutreten dem Europäischen Rat mitteile. Eine solche Absicht könne sich aber ändern. Außerdem wirke sich die Einseitigkeit des ersten Abschnitts des in Art. 50 EUV geregelten Verfahrens auf den nachfolgenden Abschnitt (in dem die Einzelheiten des Austritts mit den Unionsorganen ausgehandelt würden) aus, so dass ein verfassungskonform zurückgenommener Austrittsbeschluss seine verfassungsrechtliche Grundlage verliere. Schließlich liefe die Unzulässigkeit der Rücknahme in der Praxis darauf hinaus, dass ein Staat zum Austritt aus der Union gezwungen würde, obwohl er nach der jüngsten Rechtsprechung des EuGH (BeckRS 2018, 22076) in jeder Hinsicht ein Mitglied der Union bleibe. Es wäre unlogisch, diesen Mitgliedstaat zum Austritt aus der Union und zur anschließenden Aushandlung eines erneuten Beitritts zu zwingen. Die aufgrund der Verhandlungen erlassenen Rechtsakte seien ihnen inhärente Maßnahmen oder Abkommen im Hinblick auf den künftigen Austritt und stünden einer einseitigen Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht nicht entgegen.
Teleologische Auslegung des Art. 50 EUV
Weiter führt Campos Sánchez-Bordona aus, Art. 50 EUV sei eine Ausprägung des Grundsatzes der Wahrung der nationalen Identität der Staaten, indem ihnen der Austritt gestattet werde, wenn sie der Ansicht seien, dass ihre nationale Identität mit der Zugehörigkeit zur Union unvereinbar sei. Umgekehrt sei ein Staat nicht daran gehindert, seine Identität mit der Integration in die Union zu verknüpfen. Dass ein Mitgliedstaat, der beschlossen habe, aus der Union auszutreten, dann aber im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften seine Meinung ändere und Mitglied bleiben wolle, nicht daran gehindert werde, der Union weiter anzugehören, sei ein besonders sachdienliches Auslegungskriterium, das dem Ziel entspreche, den Integrationsprozess voranzubringen. Dieses Kriterium sei überdies für den Schutz der von den Unionsbürgern erworbenen Rechte, die durch den Austritt eines Mitgliedstaats unweigerlich eingeschränkt würden, am günstigsten.
Voraussetzungen der einseitigen Rücknahme
Der Generalanwalt weist aber darauf hin, dass es für die Möglichkeit der einseitigen Rücknahme bestimmte Voraussetzungen und Grenzen gebe. Erstens müsse sie, wie die Austrittsabsicht, dem Europäischen Rat förmlich mitgeteilt werden. Zweitens müssten die innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Vorschriften eingehalten werden. Wenn, wie im Vereinigten Königreich, die Zustimmung des Parlaments eine Vorbedingung für die Mitteilung der Austrittsabsicht sei, müsse dies logischerweise auch für die Rücknahme dieser Mitteilung gelten. Für die Rücknahme gebe es zudem eine zeitliche Grenze: Sie sei nur innerhalb der durch die Mitteilung der Austrittsabsicht in Gang gesetzten Frist von zwei Jahren möglich. Auch die Grundsätze des guten Glaubens und der loyalen Zusammenarbeit seien zu beachten, um einen Missbrauch des in Art. 50 EUV vorgesehenen Verfahrens zu verhindern.
Erfordernis einstimmigen Beschlusses des Europäischen Rates verstieße gegen Art. 50 EUV
Der Generalanwalt weist die von der Kommission und vom Rat vertretene Auffassung zurück, dass Art. 50 EUV nur eine vom Europäischen Rat einstimmig beschlossene Rücknahme zulasse. Er hält zwar eine Rücknahme im gegenseitigen Einvernehmen des austrittswilligen Mitgliedstaats, der seinen Standpunkt ändere, und der Unionsorgane, die mit ihm über den Austritt verhandelten, für möglich. Sie schließe jedoch nicht aus, dass der austrittswillige Mitgliedstaat gemäß Art. 50 EUV die einseitige Rücknahme erkläre. Dagegen wäre es mit Art. 50 EUV unvereinbar, die Rücknahmemöglichkeit von einem einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates abhängig zu machen. Denn hätte der Europäische Rat das letzte Wort über die Rücknahme und müsste dabei einstimmig entscheiden, würde dies die Gefahr erhöhen, dass der Mitgliedstaat die Union gegen seinen Willen verlassen muss, da das Recht, aus der Union auszutreten (und, umgekehrt, in der Union zu bleiben), seiner Kontrolle, seiner Souveränität und seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften entzogen wäre. Unter diesen Umständen würde es ausreichen, wenn sich nur einer der 27 verbleibenden Mitgliedstaaten gegen die Rücknahme ausspräche, um die Absicht des Mitgliedstaats zu vereiteln, der seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht habe, in der Union zu bleiben.