Gerichtliche Zuständigkeit bei Kindesentführung in Drittstaat

Die Zuständigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts in einem Rechtsstreit über die elterliche Verantwortung kann im Fall einer Kindesentführung in einen Drittstaat nicht nach Art.10 der Brüssel-IIa-Verordnung ermittelt werden. Dies hat der Europäische Gerichtshof entschieden. Zur Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit seien dann internationale Übereinkommen, hilfsweise nationales Recht heranzuziehen.

Mutter entführt Kind nach Indien

Die Mutter, wie der Vater des Kindes indischer Staatsangehörigkeit, verbrachte das Kind, für das beide gemeinsam die elterliche Verantwortung ausüben, widerrechtlich von Großbritannien nach Indien. Das Kind lebt dort bei seiner Großmutter mütterlicherseits. Der Vater hat Klage auf Rückgabe des Kindes nach Großbritannien erhoben. Die Mutter hält die britischen Gerichte für unzuständig, weil das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Indien habe. Das mit der Klage befasste Gericht, der High Court of Justice (England & Wales), wollte vom EuGH wissen, ob die Zuständigkeitsregeln für den Fall der Kindesentführung in der Brüssel-IIa-Verordnung auf einen Zuständigkeitskonflikt zwischen den Gerichten eines Mitgliedstaats und denen eines Drittstaats anwendbar seien.

EuGH: Art. 10 der Brüssel-IIa-Verordnung nicht anwendbar

Der EuGH stellt klar, dass die Kriterien in Art. 10 der Brüssel-IIa-Verordnung nur Sachverhalte erfassen, die auf das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten beschränkt bleiben. Diese Vorschrift beziehe sich nicht auf den Fall eines in einem Drittstaat erlangten Aufenthalts und regle somit keine Fragen der Zuständigkeit bei Kindesentführungen in einen Drittstaat. Der Unionsgesetzgeber habe zwar eine strenge Regelung in Bezug auf Kindesentführungen innerhalb der Union einführen wollen. Er habe aber nicht die Absicht gehabt, diese Regelung auf Kindesentführungen in einen Drittstaat zu erstrecken. Vielmehr sollten solche Entführungen insbesondere von internationalen Übereinkommen wie dem Haager Übereinkommen von 1996 über die elterliche Verantwortung und den Schutz von Kindern erfasst werden. Unter bestimmten Voraussetzungen sehe dieses Übereinkommen einen Zuständigkeitsübergang auf die Gerichte des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vor. Dieser Zuständigkeitsübergang könnte aber niemals eintreten, wenn die Gerichte eines Mitgliedstaats zeitlich unbegrenzt zuständig blieben.

Internationale Übereinkommen, hilfsweise nationales Recht heranzuziehen

Ferner widerspräche eine zeitlich unbegrenzte Fortdauer der Zuständigkeit einem der grundlegenden Ziele der Brüssel-IIa-Verordnung: dem Wohl des Kindes zu entsprechen, indem zu diesem Zweck dem Kriterium der räumlichen Nähe Vorrang eingeräumt werde. Sei ein Kind in einen Drittstaat entführt worden, in dem es infolge dieser Entführung einen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt habe, müsse das mitgliedstaatliche Gericht, das mit einem die elterliche Verantwortung betreffenden Antrag befasst sei und feststelle, dass es seine Zuständigkeit nicht auf die Brüssel-IIa-Verordnung stützen kann, seine Zuständigkeit auf der Grundlage bi- oder multilateraler internationaler Übereinkommen oder, in Ermangelung eines solchen Übereinkommens, auf der Grundlage seines nationalen Rechts ermitteln (Art. 14 der Brüssel-IIa-Verordnung). Der  EuGH kommt zu dem Schluss, dass  Art. 10 der Brüssel-IIa-Verordnung im Fall der Feststellung, dass ein Kind zum Zeitpunkt der Stellung eines die elterliche Verantwortung betreffenden Antrags infolge einer Entführung in einen Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat erlangt habe, nicht anwendbar sei.

Redaktion beck-aktuell, 24. März 2021.